: Haltlos irgendwo hinter Anklam
DORFGESCHICHTE Judith Zander lässt gleich neun Erzählperspektiven zu einer großen Provinzsaga zusammenlaufen: „Dinge, die wir heute sagten“ ist ein sehr bemerkenswerter Debütroman
Wo liegt das „Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört“? Hier liegt es. Es ist das Dorf Bresekow. Und selbst dieses Nichts kränkelt bereits vor sich hin.
In ihrem Debütroman „Dinge, die wir heute sagten“ porträtiert Judith Zander den Verfall dieser fiktiven mecklenburgischen Dorfgemeinschaft nach der Wende. Sie legt die Schattenseiten der Figuren frei, sie verstrickt ihre Schicksale zu einer komplexen und trotzdem stimmigen Genealogie. Das Ergebnis ist ein Roman von fast 500 Seiten, der der Autorin ganz zu Recht einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises bescherte.
Judith Zander kennt ihre Materie. Sie wuchs, 1980 geboren, selber im nördlichsten Mecklenburg-Vorpommern auf, einen Katzensprung von der Ostsee entfernt. Ihre Geburtsstadt ist Anklam, „na ja, Stadt“, so heißt es im Roman. Es wäre aber viel zu einfach zu sagen: Hier hatte jemand Milieukenntnis aus erster Hand und außerdem vielleicht noch eine gute Beobachtungsgabe. Man darf nämlich auch noch staunend zusehen, wie geschickt die Autorin die umständlichen Fäden durchs Buch spannt und die neun Erzählperspektiven des Romans zusammenlaufen lässt.
Dass das funktioniert, hängt damit zusammen, dass Judith Zander eine eigentlich patternartige DDR-Geschichte zum Rückgrat der Handlung macht: Eine junge Frau verlässt das mecklenburgische Dorf und taucht in Westberlin unter. Ihre unfreiwillige Rückkehr in den 90er Jahren setzt dann allerdings eine Welle der Selbstreflexionen in Gang, die die augenscheinliche Republikflucht in immer wieder neues Licht tauchen. Es geht um Gewalt, um Sexualität, um das Auseinanderbrechen der Familie. Und um die Haltlosigkeit in der scheinbar so engmaschigen Gemeinschaft des Dorfes. Indem Zander das Einzelschicksal mit der Geschichte des Dorfes verwebt, entwickelt sie eine bis zur Generation der Urgroßeltern reichende Provinzsaga.
Damit eröffnet sich dem Leser zwar ein breites Stimmungsbild von Ostdeutschland vor und nach der Wende. Der Kommunismus dringt allerdings selbst in den 1970er Jahren nur so weit in die Provinz vor, wie er die Menschen betrifft. Und schmilzt zusammen auf die LPG – Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Das ist das Zentrum, das keiner betreten will und das dennoch den Geist des Dorfes allein am Leben erhält.
Judith Zander führt die Erzählperspektive bedrückend eng. Die Erzähler – die Dorfjugend und ihre Eltern, ein zugezogener Pfarrer – sind keine Mittlerinstanz. Vielmehr blicken wir direkt auf den Nerv, auf das Trauma. Die Dorfbewohner kommunizieren nicht. Sie denken für sich. Und so ist es nur stimmig, dass Zander von Familien schreibt, die ihre Mitglieder fallen lassen und vereinzeln.
Die Sinnsuche der Figuren geschieht mal per Selbstgespräch in Du-Form, mal als Rechtfertigung vor den Toten. Oder auch in Stream-of-Consciousness-Passagen, die einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart spannen. Die Reden bleiben stets intim und stehen als Rohmaterial und unbearbeitete Textblöcke im Raum. Der Leser muss sich manchmal geradezu gewaltsam von den Figuren losreißen und zusehen, wie sich das Gesagte Stück für Stück zu einem Ganzen fügt. Diese Entwicklung vollzieht sich mit einer Gelassenheit und Konsequenz, die man nur als Reife der Autorin deuten kann.
Judith Zander tut etwas Geschicktes. Statt den Abgrund zu poetisieren, hält sie direkt drauf. Die erzählenden Figuren sind allein, schwach. Von Anfang an erahnen wir tiefe Abgründe. Es gibt keine Antworten oder Überraschungen, eher Bestätigungen und Vertiefungen. So bekommt der Roman seine große Gewalt. Denn er wirkt auch unabhängig von seinem Kontext. Die Geschichte bleibt nicht zufälliges Anhängsel des DDR-Diskurses.
ISABEL METZGER
■ Judith Zander: „Dinge, die wir heute sagten“. dtv, München 2010, 480 Seiten, 16,90 Euro