Der Motor der Literatur

Der Schriftsteller, ehemalige Feuilletonchef und Tucholsky-Herausgeber Fritz J. Raddatz wird 75 Jahre alt. Freundschaftliche Erinnerungen an eine Begegnung in der Provinz

Die volle, angenehme Stimme,die sympathische Art, zielstrebig und rücksichtsvoll zugleich etwas auf den Punkt zu bringen

Wir haben übereinander und füreinander geschrieben. Wir sehen uns einmal im Jahr. Er ist mein Freund.

Die Spielarten von Leichtigkeit, Ironie, Sarkasmus und verdeckter Schwermut suchen, erkunden und sezieren: 1960, noch zu Schülerzeiten, kaufte ich mir in der Bindernagelschen Buchhandlung auf der Kaiserstraße in Friedberg die gerade erschienene Werkausgabe Tucholskys. Damals spielten sich meine Tage zwischen dem Internat und der Aufbauschule in der Friedberger Burg, dem zentralen Café Rosenschön (Debattierklub), dem versteckteren Stadtcafé („tea for two“), dem entlegenen Eiscafé Cortina (Schreibklause), der erwähnten Buchhandlung, den Amikneipen in der Altstadt (Ethnologiestudium Nordamerika, mit billigen Zigaretten stangenweise) und dem Burggarten ab (heimliche Vieraugentreffen zur Dämmerstunde). Knappes Geld. Ich legte die paar Mark in Büchern und in der täglichen Tasse Kaffee an.

Ganz wichtig für mich die Schneisen, die „mein“ Tucholsky in diesen frühbundesdeutschen doppelgesichtigen Alltag aus Internatsdrill und Schreibexzessen, Flüchtlingsdepressionen und Wirtschaftswunderstaunen schlug.

Es dauerte anschließend 25 Jahre, bis ich dem Herausgeber der Tucholsky-Ausgabe begegnete. Ich lebte längst in Göttingen, war mit der Burggartenpartnerin von ehedem verheiratet und hatte nach längerer Pause, in der Hörspielarbeit nach vorn gerückt war, in kurzer Folge mehrere Bücher mit Prosa und Gedichten veröffentlicht und ein paar Preise bekommen. Eines Frühsommertages klingelte es an unserer Tür, ich öffnete, der Herausgeber von 1960 stand da, Fritz J. Raddatz. Ich glaube, wir sind verabredet. Die volle, angenehme Stimme, die sympathische Art, zielstrebig und rücksichtsvoll zugleich etwas auf den Punkt zu bringen und ein Klima der Kollegialität und des Vertrauens zu erzeugen.

Bartträger. Wache, sehr wache Augen. Die aber nicht kalt, noch nicht einmal kühl. Gut gekleidet, auf die unauffälligste Art. Gezügelt temperamentvoll und kultiviert „lebendig“. Nicht neugierig, dabei mehr als bereit für Neues.

Fritz J. Raddatz, der morgen am Sonntag 75 wird, war damals Feuilletonchef der Zeit. Als solcher hatte er sich auf den Weg gemacht, um einen nicht eben bekannten Autor im bundesdeutschen Winkel, in der südniedersächsischen Provinz zu besuchen und über den Besuch zu schreiben. Ich zeigte ihm meine Bücher, mein Arbeitszimmer und den Schreibplatz und erklärte mein kleines Archiv und dann noch die Frohburgbilder an den Wänden, die ich nebenbei gesagt erst in der Nacht vor seinem Kommen aufgehängt hatte, drei Jahre nach dem Einzug. Er ließ sich alles zeigen und erklären, zunehmend wies ich auch die privateren Bereiche und Ecken vor, über große Schriftstellernamen von gestern und über die heutigen Kollegen sprachen wir, über den Literaturbetrieb und über unsere Jahre in der DDR, die er als Cheflektor des Verlages Volk und Welt in Ostberlin, ich als Schüler der Erweiterten Oberschule in Geithain erlebt hatte, im allertiefsten Abseits des Ulbrichtstaates, zwischen den wüsten Raubgrabungen einerseits auf Braunkohle, andererseits auf Uran für russische Bomben.

Wochen später trafen wir uns wieder. Gerhard Schröder machte als Kandidat für das hannoversche Ministerpräsidentenamt Wahlkampf, das Niedersachsenross neu aufzäumen, und hatte Journalisten, Künstler und Wahlhelfer nach Gümse am Gümser See bei Gorleben eingeladen. Grass war da, Horst Janssen, Willy Brandt kam per Hubschrauber aus Bonn. Ein Bierzelt, eine Blaskapelle, Erbsensuppe. Gleich am Eingang stieß ich auf Raddatz. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, rief er mir zu und meinte den Artikel über mich. Später am Nachmittag ging Janssen etwas wacklig auf Brandt zu, der eine Minute allein vor dem Podium stand, und begrüßte ihn mit den Worten: Willy, wir haben etwas gemeinsam. Brandt, distanzsensibel, trat einen halben Meter zurück: So? Was denn? Na das weißt du doch, sprudelte es aus Janssen heraus, du bist ein Trinker, und ich bin ein Trinker.

Dann „passierte“ die Abberufung des „Motors“ der Zeit-Redaktion vom Posten des Feuilletonchefs. Eine Unerheblichkeit in Bezug auf das Jahr 1837, eine verzitterte Arabeske (Raddatz hatte die Eisenbahn in Goethes Lebenszeit zurückverlegt) gab den Anstoß und Vorwand und ließ die Gräfin aus der obersten Etage im Leitartikel vom tiefen Fall eines Journalisten fabulieren. Ich schrieb ihr einen langen Brief, der die Relationen zurechtzurücken versuchte, indem ich der Anklägerin wirkliche Abstürze und wahrhaft empörende moralische Fallhöhen deutscher Zeitungsleute im Dienst des „Dritten Reichs“ in Erinnerung rief.

Merkwürdige Widersprüche, seltsame Zweigleisigkeiten, ganz erstaunliche Ignoranzen. Aber gerade aus ihnen (und aus der Literatur und der Kunst und den Reisen) zieht Fritz J. Raddatz Themen, Antriebe und Energien nicht nur seiner journalistischen und essayistischen Arbeiten, auch seine Romantrilogie „Eine Erziehung in Deutschland“ und seine Autobiografie speisen sich aus diesen Mustern, aus den zeitgeschichtlichen so gut wie psychologischen Geweben und Geflechten. GUNTRAM VESPER

Der Autor, 1941 geboren, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Es schrieb viele Lyrik- und Prosabücher, darunter den Roman „Nördlich der Liebe und südlich des Hasses“, die Lyriksammlung „Ich hörte den Namen Jessenin“ und den autobiografischen Band „Lichtversuche Dunkelkammer“