: Wie Rau ist Rüttgers?
Jürgen Rüttgers hat ein großes Vorbild: Johannes Rau. Aber kann sich der Ministerpräsident und CDU-Politiker wirklich mit dem Menschenfischer vergleichen? Regiert Rüttgers wie der große Versöhner? Hat auch JR junior das Zeug für zwanzig Jahre Staatskanzlei? Zwei Antworten
Nordrhein-Westfalen ist ein sozialdemokratisches Land, egal wer regiert. Wer hier Mehrheiten erringen will, muss sein politisches Handeln an den vorherrschenden Werten und Erwartungen ausrichten: Konsens, Kooperation und sozialer Ausgleich. Die CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold und Franz Meyers wussten das. Sie gaben der CDU das Profil einer christlichen “Labour-Party“ und gewannen Wahlen. Aber niemand verstand es besser, die Normen und Werte der Bürger in NRW in seine Politik zu integrieren, als Johannes Rau.
Politik wurde im Konsens mit den Interessenverbänden gestaltet. Rau war auch Machtpolitiker. Seine Machtressource war die SPD. Durch seine Netzwerke, seine Sprache und geschickt gewählten Initiativen konnte sich Rau stets der Unterstützung von Basis und Stammwählern sicher sein.
Seine Nachfolger Clement und Steinbrück verfügten nicht über Parteimacht. Ihnen waren die traditionellen Werte der SPD eher lästig, manchmal gar peinlich. Ihrer wirtschaftsliberalen Modernisierungsrhetorik mangelte es an Anschlussfähigkeit für die Gerechtigkeitsvorstellungen der sozialdemokratischen Stammwähler. Die Folge: Bei den Landtagswahlen 2005 konnte die SPD nur noch 60 Prozent ihres Wählerpotenzials mobilisieren.
Der Regierungsstil des neuen Ministerpräsidenten gleicht in wesentlichen Aspekten dem Stil des Johannes Rau. Auch Jürgen Rüttgers ist ein integraler Parteivorsitzender. Er ist somit weit weniger auf die flüchtigen Machtressourcen der Mediendemokratie angewiesen, als Steinbrück und Clement es waren. Wie Rau kennt er die immense Bedeutung politisch-kultureller Werte. Die Bundes-CDU möge sich von ihren marktliberalen „Lebenslügen“ verabschieden. Mit Blick auf sein Wahlergebnis betont er immer wieder: „Der Vorsitzende der Arbeiterpartei bin ich!“ Das sind keine schlechten Voraussetzungen für eine lange Amtszeit.
Aber es gibt auch Unterschiede zu Rau, die Risiken bergen. Rüttgers besitzt weitaus geringere Handlungsspielräume in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zwischen seiner Rhetorik und der tatsächlichen Politik seiner Koalition klafft eine Lücke. Eine Politik einer „christlichen Labour- Party“ würden CDU-Stammwähler und Koalitionspartner auch nicht mitragen. Gleichzeitig haben sich die Wähler der unteren Sozialmilieus wieder von der Union abgewendet. Viele verschwinden derzeit im Nirwana der Nichtwähler. In einem zugespitzten Sozialstaats-Wahlkampf, wären sie für die SPD durchaus wieder mobilisierbar. Eine neue Phase christdemokratischer Dominanz in NRW ist keineswegs so gewiss, wie es erscheinen mag. TIMO GRUNDEN
Die gleichen Anfangsbuchstaben, das gleiche Amt – sonst trennt den Ministerpräsidenten mehr vom Vorvorvorgänger Johannes Rau, als ihm lieb ist. Wenn Jürgen Rüttgers trotzdem vom „Vorbild“ Rau spricht, dann trifft er es – ungewollt. Der jüngst verstorbene Rau wird für ihn unerreichbares Vorbild bleiben. Und das hat politische und biografische Gründe.
Rüttgers trat mit 19 in die CDU ein und machte mit Ende Zwanzig eine zügige Parteikarriere in Bundestagsfraktion und Bundespartei. Die Berufung ins letzte Kabinett Kohl hätte schon Höhepunkt der „Bonner“ Laufbahn des damals 43jährigen sein können. Anders kam es, weil Helmut Kohl die Bundestagswahlen verlor und auch Rüttgers einen langen Anlauf nehmen musste, um NRW-Ministerpräsident zu werden.
Doch sieben Jahre Landtagsopposition, machen aus einem Parteifunktionär noch keine Herzensangelegenheit. Rau stand auf einem anderen Fundament, war schon ohne Parteibuch populär, wurde ein prominenter Oberbürgermeister und erst später erfolgreich in Landes- und Bundespolitik – Biografien kann man eben nicht nachleben.
Weil auch der clevere Rüttgers weiß, das er an seinem emotionalen Handicap feilen muss, versucht er sich schon länger an der großen Rolle. Gegen den frostspröden Peer Steinbrück verströmte der Rheinländer so etwas wie Wärme. Für einen Rau‘schen Landesvater langte es noch lange nicht.
In diesem Sommer startete Rau wieder eine Charmeoffensive. Seither gibt er den Sozial-Onkel, singt schlecht gereimte Landeshymnen und badet in Besuchermassen zum NRW-Fest wie in der Kritik, die ihm die kalten Sozialreformer aus Berlin entgegen knurren. Das ist alles gut verpackt – aber leider auch sehr durchsichtig.
Denn Rüttgers emotionales Marketing fehlt ein politisches Programm. Es hatte zwar rührende Momente, wenn JR junior Studiengebühren mit schlechtem Gewissen einführen wollte, weil sein Vater doch nur Elektriker war und er dennoch studieren konnte. Aber am Ende hilft dem Nachwuchs auch der sentimentale MP nicht, sie müssen zahlen, er konnte gebührenfrei seinen Doktor bauen. Die aktuelle Lebenslügendebatte, um Steuergerechtigkeit und Niedriglöhne funktioniert ähnlich folgenlos. Rüttgers kann den Finger sogar in eine Wunde legen, die er nicht versorgen muss.
Aber vielleicht sollte aus JR auch gar nicht Johannes Rau werden: Denn was Rüttgers (noch) trennt vom seligen Landesvater ist das Kungelnetz der Konzernkapitäne. Dem Menschenfischer darin zu folgen, wäre sehr leicht. Hoffentlich hat er hier ein anderes Vorbild.CHRISTOPH SCHURIAN