: Die Zauberberge von Indien
Das also ist Ayurveda: Im indischen Sanatorium dreht sich alles nur um das eine
Jens stand vor einem Scherbenhaufen. Dabei hatte alles so gut begonnen: Als Jahrgangsbester hatte er sein Architekturstudium abgeschlossen. Statt sich eine Stelle in einem langweiligen Ingenieursbüro zu suchen, gründete er seine eigene kleine Firma. Die ersten Jobs liefen fantastisch. Bis er den Großauftrag eines renommierten Unternehmens aus Norddeutschland verpatzte. Zur selben Zeit verabschiedete sich auch Petra aus seinem Leben. Ihrer Meinung nach verbrachte er mehr Zeit vor dem Rechner als mit ihr. Und als wäre das nicht schon genug, litt er in letzter Zeit unter starken Magenschmerzen, die in schlimmen Darmkrämpfen gipfelten. Sein Hausarzt empfahl Jens einen heilenden Aufenthalt im Süden Indiens. In einer Ayurveda-Klinik würde er wieder zu Kräften kommen. Anfangs sträubte sich Jens: Als Selbstständiger konnte er sich keine lange berufliche Auszeit leisten. Doch schließlich willigte er ein.
Im südindischen Kerala angekommen, stellte sich die Klinik unter Palmen wie erwartet als Wohlstandsghetto heraus. Während um die Klinik-Hotelanlage herum indische Armut tobte, amüsierten sich die Patienten ganz prächtig. Jens fiel sogleich ein junger Italiener auf, der sich als Stefano vorstellte. Stefano war am ganzen Körper tätowiert: Am Unterarm hatte er den Namen seiner Mutter eingraviert, den Rücken schmückte ein Cristiano-Lucarelli-Schriftzug, – Stefano verehrte den kommunistischen Stürmer von Livorno Calcio.
Mit seiner neuen italienischen Bekanntschaft ließ sich ganz trefflich die Zeit totschlagen: Stefano hatte trotz seines jungen Alters bereits einiges von der Welt gesehen, hatte in Orlando im Disneyland gearbeitet, in Thailand als Masseur gejobbt und schließlich einige Monate in einem Ashram bei Bombay meditiert. „Zerbrich dir nicht den Kopf über deine Situation, lerne hier erst einmal deinen Körper richtig kennen“, dozierte Stefano aus seiner Hängematte, während neben den beiden einige Angestellte das Gras mit Hilfe von Nagelscheren auf Golfrasenlänge stutzten.
Bei der ersten Ayurveda-Behandlung verbesserte sich Jens’ Laune noch weiter: Denn die indischen Ärzte, die alle einen traditionellen, vor Männlichkeit nur so strotzenden Schnauzbart zur Schau trugen, stellten Jens ihre bezaubernde Übersetzerin vor. Yamira half Jens, die Diagnosen der Doktoren endlich zu verstehen. Bis dahin hatten sie nur einen unverständlichen englisch-indischen Kauderwelsch gesprochen, aus dem allerdings die deutschen Brocken „Kaka“, „Stuhlgang“ und „Einlauf“ herausstachen.
Yamira übersetzte ihm geduldig alles: Dr. Shanti habe festgestellt, dass sich bei Jens zu viele Sorgen aufgestaut hätten. „Ihr Stoffwechsel funktioniert nicht richtig, sie müssen lernen, loslassen zu können. Auch auf der Toilette.“ Yamira kannte ihn bald in- und auswändig.
Jens genoss die Kur sehr. Jeden Morgen fragten die Mediziner: „Kaka good?“. Und so nahm der Lauf der Ausscheidungsdinge seinen erwarteten Gang. „Ich werde immer mit einem zärtlichen ‚Kaka bene?‘ geweckt“, bestätigte Jens neuer italienischer Freund Stefano das Prozedere.
Unter den anderen Patienten war die Stimmung ebenfalls bestens: „Bei mir war die Abführung ganz herrlich, nach dem 13. Mal auf Klo habe ich aufgehört zu zählen“, schwappte es beim Frühstück vom Nebentisch herüber, als Jens gerade eine üppige Obstplatte gereicht wurde. Überhaupt wurden Konsistenz, Qualität und Kolorierung langsam zum einzigen Thema, besonders bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Das war also Ayurveda, dachte Jens und sehnte sich manchmal, aber nur ganz selten nach einem idyllischen Bergdorf, nach Spaziergängen in Davos, an der Seite von Yamira, ohne darauf zu kommen, woher diese Sehnsucht kam. Womöglich von der verkochten Reistunke mit Salz, die einzige Speise, die es am Tag nach einer Abführung gab, was die indischen Ober zu komplizenhaftem Grinsen bei der Frage nach der Nachtruhe animierte.
Bei Spaziergängen am Strand betrachtete Jens gern gedankenverloren das Treiben der örtlichen Fischer, die sich lauthals an einem riesigen Netz zu schaffen machten. Dann träumte er von Yamira und dem Zeitpunkt, an dem er sich endlich mit ihr über etwas anderes als seine Innereien unterhalten dürfte. Bis er jäh aus allen Träumen gerissen wurde: Jens war mit seiner Ledersandale geräuschvoll in einem Haufen stecken geblieben. Er konnte es nicht fassen. Ließen die Kurgäste hier etwa alles hinter sich? Schließlich entdeckte er einen Fischer, der am Rande der Brandung ungeniert sein Geschäft verrichtete.
Je weiter Jens ging und den Boden mit Blicken absuchte, desto verschissener zeigte sich der Strand: eine einzige Kakaphonie des Grauens. „Wie lauter kleine Zauberberge“, erschrak er, taumelte zurück und stieß dabei gegen Stefano, der ihn die ganze Zeit lächelnd beobachtet hatte. „Hab keine Angst vor dem Wie oder dem Warum, mein deutscher Freund. Entscheidend ist immer, dass überhaupt etwas hinten herauskommt“, sagte der junge Italiener. Erleichtert lächelnd blickten beide auf den Indischen Ozean, und Jens ahnte, dass er noch eine lange, lange Zeit hier bleiben würde.
INGMAR VOLKMANN