Hier kommt die Rettung

ANLEITUNG Der emeritierte Journalistik-Professor Michael Haller meint zu wissen, was Leser von ihrer Tageszeitung erwarten

VON KLAUS WOLSCHNER

„Die Auflagenrückgänge sind überwiegend hausgemacht“, mit dieser These provoziert der Medienwissenschaftler Michael Haller die Zeitungsverlage. Seine jahrelangen Recherchen, die er als Berater diverser Regionalzeitungen anstellte, hat er nun in einem Buch zusammengefasst. Titel: „Brauchen wir Zeitungen?“ Untertitel: „Zehn Gründe, warum die Zeitungen untergehen. Und zehn Vorschläge, wie dies verhindert werden kann“.

Was die LeserInnen laut Haller abstößt, ist vor allem der „blutleere Institutionalismus“ der politischen Berichterstattung. Die Leser wollten, so seine These, „keine täglich gedruckte Wochenzeitung“, sie sind von den inaktuellen Allerweltsthemen, den Human-Interest-Storys und aufwendig illustrierten Serien eher gelangweilt, sie haben bei der vor allem morgendlichen Lektüre dafür keine Zeit. Haller hält nichts vom Konzept des „entschleunigten“ Hintergrundmediums, das die aktuelle Informationsleistung ersetzen will durch zeitlose Erzählstücke. Und er hält auch nichts von der Beschränkung aufs Lokale.

Von einem Medienforscher und emeritierten Journalistik-Professor, der mit seinen Journalismus-Handbüchern bekannt geworden ist, darf man sicherlich nichts anderes erwarten. Aber Haller belegt seine Position mit einer genaueren Analyse der Krisenzahlen und mit den Leser-Gesprächen, die er im Rahmen seiner Berateraufträge für diverse Zeitungen durchgeführt hat.

Zunächst die Zahlen: Seit dem Jahr 1992, das sagt die Statistik, erreichen die Tageszeitungen vor allem jüngere Leserschichten immer weniger. Bei den 25- bis 34-Jährigen sank die Quote um rund ein Drittel. Nur die über 60-Jährigen sind treue Leser.

Viel Stoff, wenige Leser

Was hinzukommt: Die Verweildauer der LeserInnen lag Anfang der 1990er Jahre bei rund 37 Minuten, inzwischen lesen sie ihre Zeitung nur noch 25 Minuten lang. Zeitungen bringen, fasst Haller zusammen, „(zu) viel Lesestoff, von dem (zu) viele Leser nicht wissen, warum sie diesen eigentlich lesen sollten“.

Aber es gibt Zeitungen mit einem Zuwachs an Reichweite, es gibt Unterschiede unter den Verlierern: Die Badische Zeitung erreicht eine Haushaltsabdeckung von gut 40 Prozent, das Hamburger Abendblatt nur 10,7 Prozent. Obwohl das Abendblatt mit rund 180 Redaktionsmitgliedern die größte Redaktion einer deutschen Regionalzeitung hat, schrumpfte die verkaufte Auflage in den letzten zehn Jahren von 270.000 auf 177.000. Haller: „Wäre das Hamburger Abendblatt ähnlich erfolgreich wie die Badische Zeitung, hätte es selbst 2013 eine verkaufte Auflage von einer halben Million Exemplare.“ Das Abendblatt ist „einer der größten Verlierer unter Deutschlands Regionalzeitungen“.

Warum? Zeitungen sind erfolglos, wenn sie ihre eigenen „Gattungsmerkmale“ demontieren, sagt Haller. Das Durchblättern der Tageszeitung gehört zum „Morgenritual“, jedenfalls bei denen, die sie abonniert haben: Zeitungsleser suchen Orientierung, wollen wissen, was die sechs bis zehn Topthemen des Tages sind, „was wirklich los ist“. Die Zeitung muss über die „unstrittig relevanten Ereignisthemen berichten“. Dabei hat der durchschnittliche Leser statistisch für die Politik-Seiten der Zeitung rund 9 Minuten Zeit, für das Lokale 6 bis 7 Minuten. Etwa eine Sekunde lang erwägt der Zeitungsleser, ob es Texte gibt, für die es sich lohnt, das Blatt nachmittags noch einmal aufzuschlagen.

Wer mit einem Kreuzfahrt-Quiz oder der Leser-werben-Leser-Bohrmaschine für eine Tageszeitung wirbt, zerstört damit deren „Gattungsmerkmale“, davon ist Haller überzeugt: Nur die „Stärkung handwerklicher Qualitätsstandards sichert die Reichweite der Zeitung“, mit denen sie sich „vom großen Rest des meist amateurhaften Publizierens abgrenzen“ könne.

Internet ist unschuldig

Wenn der Rückgang der Zeitungsauflagen schon im Jahre 1992 einsetzte, dann macht das für Haller deutlich, dass der Hinweis auf die Konkurrenz unentgeltlicher Onlineangebote und die Attraktivität audiovisuellen Medien den negativen Trend nicht erklären können.

Haller macht einen kulturellen Wandel dafür verantwortlich, den viele Zeitungen verschlafen haben: Journalisten würden bei den entscheidenden politischen Themen aus der Sicht von Machtträgern und Institutionen berichten. Vor allem aber jüngeren Erwachsenen sei diese Perspektive fremd, Zeitungen müssten, um wieder jüngere LeserInnen zu binden, einen „Perspektivenwechsel“ vollziehen und aus der Alltags- und Erfahrungswelt auf die Politik blicken. Es gehe um eine „Umorientierung der journalistischen Berufsrolle“.

Die „institutionelle Sicht“, so haben jüngere Leser bei den Gesprächsrunden dem Medienwissenschaftler vermittelt, wirke mit ihrer „Logik abstrakter Zuständigkeiten“ formalistisch und unecht. Haller konstatiert nicht nur einen „Abschied vom klassischen Bildungskanon“, sondern auch eine „schwindende Reputation und Bindekraft der politischen und kulturellen Institutionen“. Auf das Angebot, kostenfrei über Wochen die Tageszeitung geliefert zu bekommen, würden viele Jugendlich nach dem Motto „Ich bin doch kein Rentner“ reagieren.

Was tun? Vermutlich sind diese Jugendlichen kaum zu den Gesprächsrunden der Zeitungsleser gekommen, aus denen Haller seine Erkenntnisse zog. Ihm fallen zur Bindung junger LeserInnen nur „Aufklärungskampagnen zum Problemthema ‚Kinder und Bildschirmmedien‘“ ein und Projekte an den Schulen: „Medienkompetenz bedeutet also hier, die Kulturtechnik ‚Zeitung-Lesen‘ zu erwerben.“ Das hat die Überzeugungskraft vom Pfeifen im dunklen Wald.

■ Michael Haller: „Brauchen wir Zeitungen?“. Halem Verlag, Köln 2014, 248 Seiten, 18 Euro