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Archiv-Artikel

Die wilden Detektive

GASTLAND ARGENTINIEN Avantgarde versus soziales Engagement. Borges gegen Walsh. Ein Überblick über historische Tendenzen und aktuelle Neuerscheinungen argentinischer Literatur anlässlich der bevorstehenden Buchmesse

Borges definiert den Krimi als regelgeleitetes Erzählen. Einmischung der Realität ist unerwünscht

VON THOMAS WÖRTCHE

In Raúl Argemís für die zeitgenössische argentinische Literatur prototypischer Novela Negra „Und der Engel spielt dein Lied“ (Unionsverlag) gibt es eine Szene, die während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren spielt. Die Schergen der Generäle belagern ein Haus, in dem sich ein paar Guerilleros verschanzt haben, und beschießen es mit schwerem Geschütz. Als alles vorbei zu sein scheint, tritt eine junge Frau auf den Balkon, „rief etwas über Siegen oder Sterben, hob die Pistole und schoss sich in den Kopf“.

Argemí spielt damit sowohl auf die Koalition von Militärdiktatur und Organisiertem Verbrechen an, als auch auf die Ermordung einer Tochter des Journalisten und Schriftstellers Rodolfo Walsh. Diese war am 29. September 1976 als Mitglied der linken Widerstandsgruppe Montoneros auf exakt dieselbe Weise zu Tode gekommen. Die Reverenz, die Argemí damit dem 1977 ebenfalls von den Militärs ermordeten Rodolfo Walsh erweist, ist mehr als eine Anekdote. Es ist die Verneigung vor einem hierzulande noch unbekannten Großen der argentinischen und lateinamerikanischen Literatur.

Walsh hatte 1976 den Mut, einen präzise analysierenden, offenen Brief an die Militärjunta zu schreiben, und bezahlte dafür mit seinem Leben. Er war mehr als nur ein bedeutender engagierter Journalist. Ihn und andere Argentinier dieser Epoche (wie zum Beispiel auch Enrique Medina, dessen „Der Boxer“ bei Drava eine Erstübersetzung erlebt) auch im Deutschen als wichtige Autoren sichtbar zu machen, ist zweifellos ein Verdienst der oft gescholtenen Einrichtung des „Gastlandes“ bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Walshs Wiederentdeckung

Wiederentdeckung und Pflege der Werke von Rodolfo Walsh, die wir vornehmlich dem Zürcher Rotpunktverlag verdanken, manifestieren sich in der Neuübersetzung des True-Crime-Klassikers „Das Massaker von San Martín“ durch Erich Hackl. Es handelt sich dabei um eine literarische Reportage aus dem Jahr 1956. Sie erscheint also sieben Jahre vor Truman Capotes „Kaltblütig“. Flankierend kommt bei Rotpunkt der Erzählband „Die Augen des Verräters“ heraus, Kriminalgeschichten und fantastische Stories nebst einem kleinen literaturtheoretischen Manifest. Außerdem ist eine Sammlung von Walshs Non-Crime-Stories, darunter die in Lateinamerika zum Kanon gehörende Erzählung „Diese Frau“, über den Leichnam von Evita Perón, im Stockmann Verlag erschienen.

Es sind vor allem Walshs Kriminalgeschichten, hauptsächlich aus den 1950er Jahren, die Aufmerksamkeit verdienen. Sie stehen in einem direkten, auch polemisch geführten Dialog mit dem Übervater der argentinischen Literatur, Jorge Luis Borges.

Man kann dabei gut erkennen, wie Walsh das dominante Borges’sche Modell des Krimis als hochartistisches und postmodern (meta-)reflektiertes, intellektuelles Rätsel abbaut. Bei Borges, nachzulesen unter anderem in dem gerade bei Hanser erschienenen Essayband „Ein ewiger Traum“, ist Kriminalliteratur in der Nachfolge von Gilbert Keith Chesterton zu denken: als regelgeleitetes Erzählen, bei dem die allzu starke Einmischung von Realitäten – „Fingerabdrücke, Folter und Denunzierung“, wie Borges die „alltäglichen Wege der polizeilichen Ermittlung“ schon 1935 maliziös beschreibt – nicht erwünscht ist.

So insistiert Borges auf einer „notwendigen Lösung“ am Ende, schlägt damit den Bogen einerseits zu seinen ratlos-bewundernden, aber letztlich ablehnenden Reflexionen von James Joyces „Ulysses“ (wo es keine „notwendige Lösung“ geben kann, au contraire) und damit zur Ablehnung einer Moderne, die sich mit den Realitäten allzu vordergründig ins Handgemenge begibt. Eine Position übrigens, die Borges mit Dorothy Sayers teilt, deren Verteidigung des „klassischen“ Kriminalromans gleichzeitig eine Attacke gegen die Zumutungen der Moderne sind.

Wer sich eingehender mit der argentinischen Literaturgeschichte beschäftigt, wird hier das Echo der Kämpfe zwischen den literarisch-ästhetischen Gruppierungen „Florida“ und „Bodeo“ erkennen, als deren Protagonisten eben Borges und Victoria Ocampo auf der einen, avantgardistischen und Roberto Arlt auf der anderen, eher sozial engagierten Seite standen. Walsh nun verschärft durch seine zunehmend radikaler werdende Politisierung diesen Antagonismus.

Und der reicht bis weit in die Jetztzeit. Auch da ist es sinnvoll, sich entlang der Parameter von Kriminalliteratur zu bewegen. Das ist keinesfalls eine Marotte, sondern liegt zum Beispiel den Überlegungen von Ricardo Piglia zugrunde, der den „Detektiv“ als freischwebende Intelligenz (according to Karl Mannheim) begreift, für den ein „antiinstitutionelles Element“ im „Deutungsschema“ entscheidend ist, wie man in Piglias im Berenberg Verlag versammelten Essays „Kurzformen“ nachlesen kann.

Lakonisches Erzählen

Und natürlich ist die argentinische Literatur auch neben Borges und Bioy Casares (in ihren Masken als Bustos Domecq und B. Suárez Lynch) in ihren Klassikern krimiaffin. Man denke an Ernesto Sabatos „Tunnel“ (Wagenbach Verlag) oder, wenn man will, sogar an ein paar Texte von Horacio Quiroga, dessen Kurzgeschichten (eine Auswahl gibt es unter dem Titel „Die Wildnis des Lebens“ bei S. Fischer) ideale Beispiele für lakonisches Erzählen sind. Und das gerade bei den Sujets Gewalt und Verbrechen.

Bis heute wurde und wird das Borges’sche Krimimodell auf diversen Niveaus weitergeschrieben, von Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo, deren Gemeinschaftswerk „Der Hass der Liebenden“ erstmals auf Deutsch bei Manesse erschienen ist, aber auch von Autoren wie Guillermo Martínez („Gewaltige Hölle. Erzählungen“, Eichborn).

Bei den Autoren der Gegenwart ist deutlich eine Auseinandersetzung mit der argentinischen Zeitgeschichte zu beobachten, die nicht nur Rodolfo Walshs politisch-ästhetisches Programm geprägt hat. Die Militärdiktatur und der Islas-Malvinas- respektive Falklandkrieg (gnadenlos bösartig thematisiert in dem einzigen auf deutsch erhältlichen Buch des großartigen Exzentrikers Fogwill: „Die unterirdische Schlacht“ bei Rowohlt) scheinen als Leitthemen die Probleme des heutigen Argentiniens zu überwölben. Wichtige Bücher des jüngst verstorbenen Tomás Eloy Martínez („Purgatorio“, S.Fischer), Martin Caparrós („Wir haben uns geirrt“, Berlin Verlag) oder Laura Alcoba („Das Kaninchenhaus“, Insel) beschäftigen sich explizit mit den Nachwehen und der Aufarbeitung des Diktaturtraumas. Und auch junge Autoren wie Félix Bruzzone, geboren im Jahr 1976 („76“, Berenberg) suchen mit den ihnen gemäßen literarischen Möglichkeiten den Zugang zur Geschichte ihrer Eltern.

Manches, wie Guillermo Orsis „Im Morgengrauen“ (dtv) oder Marcelo Figueras unplausibel verschlüsseltes Werk „Der Spion der Zeit“ (Nagel & Kimche) ist auch missglückt und wäre ohne den Kontext einer „Argentinien“-Buchmesse sicherlich nicht in deutscher Fassung erschienen. Autoren wie Rodolfo Walsh oder Raúl Argemí waren da in Stil und Haltung bereits weit radikaler.