: Der Wahnsinnige von der Insel
Zwischen Leiden und Macht: Donizettis rare Oper „Il Furioso all‘isola di San Domingo“ hatte im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier Premiere
VON FRIEDER REININGHAUS
Was bringt einen Mann dazu, vollkommen durchzudrehen? Die Liebe! Bei Signor Cardenio jedenfalls, einem jüngeren Cousin des echten jungen deutschen Werther, ist es ebenfalls Enttäuschung des Herzens (und ein wenig auch gekränkte Mannesehre), die ihn in den Wahnsinn treibt. Die Hauptfigur von Jacopo Ferrettis Melodramma „Il furioso all‘isola di San Domingo“ wird als Sohn der italienischen Romantik vorgestellt: Er heiratet allein aus Liebe, nimmt dafür den Bruch mit dem Vater und dem ganzen Clan in Kauf. Doch die vergötterte Gattin betrügt ihn nach Strich und Faden. Er flieht vor seinem Elend in unwegsame Felsregionen, irrt an den Stränden Haitis herum, erschreckt mit seinem sprunghaften Verhalten und seinen Wutausbrüchen zumindest den des Wegs kommenden Negersklaven Kaidamà. Marcella hingegen, die Tochter des Pflanzers Bartolomeo, ficht Cardenios wirres Gebaren nicht an. Sie hat Mitleid mit dem armen Teufel und findet zumindest dessen mutmaßlich gute Seele attraktiv. Was nun wiederum ihrem Vater überhaupt nicht passt, aber eine phantastische Opern-Exposition abgibt (und dazu noch vor der exotischen Kulisse des karibischen Insel!). Die „romantische Liebe“ als Lebenskonzeption stieß von jeher auf tiefe Skepsis und Abneigung bei den Bodenständigen und materialistisch Gesinnten. Nicht nur in Lateinamerika. Und die Erschütterung der Liebe im Epizentrum - der sexuellen Treue – ist ebenfalls nicht nur in südlicheren Erdbebenregionen ein fortdauerndes Problem.
Wahnsinn und Genie
Gaetano Donizetti wurde 1797 – im gleichen Jahr wie Heinrich Heine und Franz Schubert – in Bergamo geboren und vom musiktheaterkundigen Simon Mayr solide ausgebildet. Mit neunzehn schrieb er seine erste Oper (“Il Pigmalione“). Überregional bekannt wurde er 1827 mit „Viva la Mamma!“ (einer Farce über die Zustände am Theater). Weltruhm brachte ihm drei Jahre später die musikalische Tragödie „Anna Bolena“ ein, „Der Liebestrank“ untermauerte ihn. Er war in die Fußstapfen Rossinis getreten, der sich krankheitshalber aus dem Operngeschäft zurückziehen musste - und konkurrierte mit Bellini um Platz 1 auf den Hit-Listen.
Immer wieder befassten sich Donizettis Opern mit dem Zusammenhang von psychischen Leiden und Machtausübung (“Lucrezia Borgia“, „Maria Stuarda“) oder direkt mit Fragen des Wahnsinns (“Lucia di Lammermoor“). Am Ende des nicht sehr langen Lebens holte ihn dieser ein: der 49-jährige Maestro wurde, bald nach dem gewaltigen Erfolg des „Don Pasquale“, mit den Symptomen progressiver Paralyse in der Irrenanstalt von Ivry bei Paris interniert. Da die Folgen der Syphilis-Infektion damals nicht zu kurieren waren, wurde er in seine Heimatstadt überstellt, wo er 1848 starb.
Der Regisseur Andreas Baesler war so klug, das Stück vom Wahnsinnigen auf der tropischen Insel nicht vor Palmen- und Touristen-Kulissen spielen zu lassen, sondern von Anfang bis Ende im Sanatorio von San Domingo. Harald Thor und Ulli Kremer haben die Ausstattung Milos( Formans Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ abgeschaut – eine Anstalts-Installation im charakteristischen verranzten Ocker und Hellbraun, mit frei liegenden Heizungsrohren, antiquierter Dusche und Badewanne, großem Oberlicht und Mobiliar der 1960er Jahre. Der Landwirt Bartolomeo mutierte zum Oberarzt, seine Tochter Marcella zur Nachtschwester.
Der Chor der Patienten, neugierig und verhuscht, fröhlich im Bade und gelegentlich schadenfroh, macht seine Sache prima – gerade auch den aus der Natur ins Irrenhaus verlegten Sturm. Die neue Philharmonie Westfalen ist auch munter mit von der Partie, allerdings unter der Stabführung von Cosima Osthoff nicht immer ganz präzise. Statt Jack Nicholson ist Jee-Hyon Kim in der Titelpartie zu sehen: leidend und zu starken Ausbrüchen neigend. Hrachuhí Bassénz sucht ihn als seine plötzlich reumütige Frau heim, abwechselnd berstend vor Selbst- und Schuldbewußtsein, auftrumpfend mit Koloraturen und zerknirscht - und wie zufällig stellt sich zum selben Zeitpunkt der Bruder des Wahnsinnigen ein, den Sergio Blazquez perfekt als Erbschleicher gibt. Rossinis Turbulenz-Effekte geistern noch einmal über die Bühne.
Grenzen der Freiheit
Die Übertragung ins Anstalts-Milieu funktioniert durchgängig und fast ohne größere Reibungsverluste, da die Übersetzung dem leicht veränderten Handlungsverlauf diskret angepasst wurde. Eigentlich wird durch Donizetti das Hohe Paar - Eleonora und Cardenio - nach bestandener Liebesprobe (beim Pistolenduell) am Ende in glücklich aufgefrischer Liebe vereint. Andreas Baesler entlässt ihn, den „Wahnsinnigen“, in die weite Welt hinaus. Die Ehefrau aber wird vom umsichtigen Klinik-Personal zur Beobachtung eingezogen und in Zwangsjacke abgeführt. Damit er die neue Freiheit in Ruhe genießen kann.
So, 10. September, 18:00 UhrMusiktheater im Revier, GelsenkirchenInfos: 0209-4097200