: Übermächtige Gegner
REIZÜBERFLUTUNG Das Internet überschwemmt seine User mit Bildern, Sounds und Filmen. Wie Künstler darauf reagieren, zeigt der Kunstverein Wolfsburg in der Ausstellung „I can’t control myself“
Bei einem Shitstorm im Internet wird gern kräftig ausgeteilt. Aber wie kommt es zu dieser Aggression, oder, etwas gnädiger formuliert: zu derartig unkontrollierten Gefühlseruptionen, die sich in den modernen Kommunikationsmedien Bahn brechen? Der Kunstverein Wolfsburg geht in seinem Jahresprogramm dieser Flut der Gefühle nach. In der ersten Gruppenausstellung zum Thema geht es um den Kontrollverlust als ein Phänomen des Internet-Zeitalters: Bilder, Werbeclips und Klänge fluten das Netz – und mit ihm auch die Psyche des Users.
Die Reizüberflutung in der modernen Zivilisation ist nichts Neues. So sind auch historische Referenzen vertreten, als älteste Exponate etwa die acht Fotolithografien von Ludwig Meidner (1884-1966), er wurde 1937 als entartet verfemt. In explosionsartigen Szenen fasste er 1914 das Straßenleben Berlins zusammen: Bars, elektrisches Licht und neue Verkehrsmittel formieren sich zu mitreißender Dynamik und Spannung, aber ebenso zu verstörender Zerrissenheit.
Als Wegbereiter der Medienkunst ab den 1960er Jahren darf natürlich der Südkoreaner Nam June Paik nicht fehlen. Sein Video „Global Groove“ feierte 1973 das weltumspannende Fernsehen als Vision, auch als grenzenlosen Raum des künstlerischen Austausches.
Die jüngeren Teilnehmer der Ausstellung gehen abgeklärter ans Thema, sie beschäftigt weniger ein utopischer Aspekt der Medienrealität. Bernhard Moosbauer beispielsweise fischt im skurrilen Bilderspam des Internets, manipuliert ausgewählte Fotos mittels Bildbearbeitung weiter und vereinheitlicht thematische Serien in Schwarz-Weiß. Seine inhaltlichen Kategorien – etwa Sport, Unfälle und Schadenfreude – zeigen anonyme Stereotype in reiner Präsenz, der ursprünglichen Absicht ihrer Veröffentlichung längst enthoben.
Julius von Bismarck hingegen reflektiert in seinen Fotos das Naturverständnis der Moderne. Während heute die Vorstellung technischer Beherrschbarkeit vermeintliche Sicherheit suggeriert, inszeniert Bismarck das romantische Bild der übermächtigen Natur. Ähnlich dem Perserkönig Xerxes, der in einer absurden Strafaktion das Meer auspeitschten ließ, weil es seine findige und kriegswichtige Pontonbrücke über die Dardanellen zerstört hatte, stellt sich Bismarcks Protagonist in grotesker Hilflosigkeit erneut dem übermächtigen Gegner.
Julia Oschatz und die Niederländerin Mathilde ter Heijne interessieren sich für Grenzüberschreitungen. Oschatz’ in einfachen schwarzen Pinselstrichen gezeichnete Wesen sind keine Menschen mehr, sondern apokalyptische Kreaturen, deren Körper und Köpfe, Gefäßen gleich, beliebig befüllt werden. Ter Heijne zeigt den Selbstmord in seiner fremdgesteuerten Variante des politischen Attentats. Sie verarbeitet dazu Textmaterial von Dschihad-Websites, des CIA aber auch einen Vortrag der Universität Tel Aviv. Der existentielle Kontrollverlust eines Individuums erscheint ideologisch universal.
Ganz handgreiflich wird es dann bei Anna Witt. Die in Wien lebende Deutsche interessiert die Gier nach Geld, eine offensichtlich gemeingefährliche Anwandlung, der gerne gesittetere Umgangsformen geopfert werden. Sie ließ in einer kurzen Aktion eine Handvoll Menschen eine Moskauer Wohnung verwüsten, nur, weil dort ein paar versteckte Geldscheine auf Finder warteten. Ein Kontrollverlust zeigt sich also nicht nur in der virtuellen Welt der Medien, es gibt ihn auch in realer Ausprägung. BETTINA MARIA BROSOWSKY
„I can’t control myself“: bis 4. Mai, Kunstverein Wolfsburg