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Archiv-Artikel

Wenn man die Luft anhält

HANDWERK Theaterfotografien sind wichtige Zeugnisse für die Geschichte der flüchtigen Kunst. Ein Blick über die Schulter von Mara Eggert und Arno Declair, renommiert unter den deutschen Theaterfotografen

„Nicht meine Fotos sollen in Erinnerung bleiben, sondern die Inszenierung durch meine Fotos“

ARNO DECLAIR

VON BARBARA BEHRENDT

Ein kräftiger Mann, das Schwert über der Schulter, hält einen kleinen Jungen an der Hand, ihre Blicke begegnen sich. Mit dem Rücken zum Betrachter gehen sie gemeinsam in das unendliche Weiß, das vor ihnen liegt. Wir sehen ihre Welt als kreisrunden Ausschnitt, scharf abgegrenzt vom absoluten Schwarz außerhalb. Wie zwei Menschen im Mond wirken sie, in einer Glaskugel, einer Seifenblase. Oder ist ihre Welt die reale – und wir können sie nur durch das kleine Guckloch einer Kameralinse beobachten?

Das Foto ist bei Ruth Berghaus’ „Siegfried“-Inszenierung 1986 an der Frankfurter Oper entstanden. Man kann den Kreis auch als Ring interpretieren, als Ring der Nibelungen, den die Regisseurin in Frankfurt vollständig aufgeführt hat. Die Bilder der Theaterfotografin Mara Eggert sind die einzigen Dokumente der aufsehenerregenden Produktion. Die Fotos bilden eine Erinnerungshilfe, die einzige Form, einen Eindruck von der Ästhetik des Theaters einer anderen Zeit zu bekommen.

Mara Eggert hat den Moment gewählt, in dem Siegfried sich vom Waldvogel, in Gestalt eines Jungen, auf den Weg zu Brünnhilde leiten lässt. Was ist hier die Kunst des Bühnenbildners Axel Manthey, was das Kameraspiel Mara Eggerts? Die Blackbox des Theaters und die Fototechnik verbindet die Fotografin und lässt einen Raum entstehen, der etwas über Stück, Schauspieler und Inszenierung verrät, aber auch einen Assoziationsraum jenseits des Theaters eröffnet.

Komposition wie gemalt

Mara Eggert, Jahrgang 1938, ist eine der renommiertesten Fotografinnen ihrer Zeit. Über 30 Jahre lang, seit 1972 unter der Leitung von Peter Palitzsch, hat sie die Inszenierungen des Schauspiel Frankfurt fotografiert, fast ebenso lang die der Frankfurter Oper. „Meine Aufgabe ist, festzuhalten, was auf der Bühne zu sehen ist. Darüber hinaus erzählen meine Bilder Geschichten – unabhängig davon, ob man die Inszenierung kennt oder nicht“, sagt sie über ihre Arbeit. Daraus ist eine Bildästhetik entstanden, die den Betrachter bei universellen Themen packt. Ihr Blick, ihr Stil ist prägend – vielleicht sagt er sogar mehr über den Menschen in seiner Welt als über die Inszenierung. Mara Eggert hat Produktionen von Hans Neuenfels ins Bild übersetzt, Robert Wilsons klare Ästhetik festgehalten und Ruth Berghaus davon überzeugt, dass ein gutes Theaterfoto nicht dadurch entsteht, dass die Regisseurin mit einem Schultertippen das Signal zum Auslösen gibt.

Eggert folgt einem Aufbau der Malerei: Komposition, Licht und die Haltung der Figuren analysiert sie genau. Sie drückt nur auf den Auslöser, wenn alles stimmt. „Ich wusste, irgendwann kommt der Augenblick, in dem der Junge den Siegfried-Darsteller angucken wird. Das war mein Moment! Die Millisekunde, in der auch die kleinen Wimpern zu sehen sind.“

Natürlich ist es ein Stilmittel Eggerts, ein Foto zu einem Gemälde zu verdichten, das die Atmosphäre der Inszenierung aufzunehmen versucht. Aber die Technik hat ihre Arbeitsweise ebenfalls geprägt. Von 1962 bis heute hat sie immer mit einer schweren, analogen Hasselblad-Kamera fotografiert, Stative mitgeschleppt, Rollfilme eingelegt.

Ganz anders ist das heute, im Zeitalter der Digitalfotografie. Ein typisches Foto von Arno Declair, gut 20 Jahre jünger als Mara Eggert, zeigt drei Menschen im Sprung an eine weiße Wand, auf weißem Boden. Wie Fliegen, die an eine Windschutzscheibe knallen, prallen die kleinen Figuren an die Wand. Am Boden schlängelt sich ein schwarzes Kabel an einer E-Gitarre durch das Weiß, am oberen Ende des Kubus ist ein Ausschnitt des lateinischen Satzes zu lesen: „Oh! Ihr alle, die ihr diesen Platz überquert, habt acht und seht, ob mein Schmerz dem euren gleicht!“ Es ist das Bühnenbild von Andreas Kriegenburgs Uraufführung des Dea-Loher-Stücks „Das Leben auf der Praça Roosevelt“, 2004 am Thalia Theater in Hamburg inszeniert.

Die Sprünge, unscharf in der Bewegung eingefangen, passen so gut zum zentralen Thema des Stücks, dass man einen Zufall ausschließen will: Die Körperlichkeit in Brasilien, das hohe Tempo der Inszenierung kann man in diesem Bild symbolisiert sehen. Die Gitarre könnte auf das Klischee vom brasilianischen Singen und Tanzen verweisen, das Loher in ihrem Stück bricht. Diese Überlegungen gingen Arno Declair aber wohl zu weit.

Seine Fotos entstehen nicht nach langer Überlegung, sondern „aus dem Rückenmark. Aus der Bewegtheit. Wenn man die Luft anhält, die Szene sich so verdichtet, dass man fühlt: Jetzt ertrag ich es nicht mehr! Diesem spontanen Impuls, draufzudrücken, kann ich mit der Digitalkamera ungestraft nachgeben.“ Die Fotos als autonome Kunst zu vereinnahmen, fände er vermessen: „Ich würde meine Aufgabe als Fotograf überschätzen. Nicht meine Fotos sollen in Erinnerung bleiben, sondern die Inszenierung durch meine Fotos.“

Ein Tick Unschärfe

Declair stieg als einer der Ersten im deutschen Theaterbetrieb auf Digitalfotografie um. Angefangen hat er mit Konzertfotos für die Hamburger Morgenpost, dann entstanden Kontakte zum freien Theater Kampnagel und zum Schauspielhaus, heutzutage hält er sämtliche Produktionen des Deutschen Theaters Berlin fest, hat fast alle Inszenierungen von Thomas Ostermeier an der Schaubühne fotografiert, viele Arbeiten an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Essen. Er gehört zu den gefragtesten Theaterfotografen in Deutschland.

Seine Ästhetik lebt von der Bewegung: „Ich suche das Bild aus, das vibriert, wo ein Tick Unschärfe drin ist.“ Bei den ersten Theaterfotos, eines davon 1871 beim Oberammergauer Passionsspiel aufgenommen, entsprach es dem Ehrgeiz der Fotografen, genau diese Unschärfe zu vermeiden. In der Totalen sind hier alle Darsteller samt Bühnenbild zu sehen, möglichst bewegungslos und mit bedeutungsvoller Gestik stellen sie eine Szene nach – denn erstens durfte nichts verwackeln und zweitens ist das Passionsspiel eine ernste Angelegenheit. Vor diesem Zeitpunkt posierten Schauspieler nur im Atelier des Fotografen. Als 1888 der Rollfilm erfunden wurde und die erste leicht bedienbare Kodak auf den Markt kam, konnten auch Amateure Fotos schießen. Mit Hilfe von Blitzlicht auf der Bühne waren dann gestellte Szenenfotos von professionellen Fotografen im Theater möglich.

Während einer Aufführung „live“ zu fotografieren, war ab 1924 möglich, als es handliche Kameras mit lichtstarken Objektiven zu kaufen gab. Ob Fotos, die spontan während der Aufführung entstanden waren, einen künstlerischen Wert hätten, war unter Fotografen umstritten. Den gestellten Szenenfotos sprach man dagegen jede Kreativität und Authentizität ab. In den letzten 30 Jahren hat sich die Theaterfotografie von der statischen, symbolistischen Konzeptkunst mit stark formalem Sog wie bei Mara Eggert zum spontanen Bewegungsbild wie von Arno Declair entwickelt. Das kann auch am zu fotografierenden Gegenstand liegen, mit Sicherheit liegt es an fototechnischen Neuerungen. Die Beschleunigung des Theaterbetriebs spielt aber vielleicht die größte Rolle. „Ich habe eine Produktion von der ersten Probe an begleitet“, erzählt Eggert. „Ich habe mit Regisseur und Dramaturg gesprochen, den Text gelernt, fast wie ein Schauspieler – ich musste ja wissen, wann die Stelle kommt, an der ich auslösen will. Ich habe Zeichnungen gemacht und Kameras an verschiedenen Stellen positioniert. Die Proben des Ensembles waren auch meine Proben.“

Der Betrieb beschleunigt

Wochenlang auf Proben zu sitzen, dafür wird ein Theaterfotograf heute nicht mehr bezahlt: „Ich habe einen Termin, um das Vorab-Foto fürs Plakat zu machen, einen zweiten für die Programmheftfotos. Die meisten Teams sind froh, wenn ich danach nur noch ein Mal zur Hauptprobe komme“, rechnet Arno Declair vor. Der Theaterbetrieb ist schneller, die Probezeit kürzer geworden – und die Technik macht eine rasche Bildproduktion möglich. „Weil so knapp produziert wird, nimmt man dankend an, was sich rationalisieren lässt.“ Auf dem Weg von Berlin nach München kann Declair die Bilder im Zug bearbeiten, bevor er am Abend bei der Probe an den Kammerspielen fotografiert. Die Fotos werden zunächst theaterintern verwendet: In Schaukästen, Programmheften, Flyern und auf Plakaten geben sie den ausschlaggebenden Impuls, eine Inszenierung anzuschauen. Zeitungen schicken oft ihre eigenen Fotografen zu einmaligen, öffentlichen „Fotoproben“. In der Presse erscheinen dann Fotos, die Eggert „Kopf-an-Kopf-Bilder“ nennt: die Gesichter der Hauptdarsteller, möglichst nah, möglichst plakativ.

Trotz unterschiedlicher Prägung und anderen Berufsbedingungen – identisch ist Eggerts und Declairs Definition eines guten Theaterfotos: „Eines, das nicht sofort als Theaterfoto erkennbar ist. Das ein Geheimnis hat, das in jedem Betrachter eine eigene Geschichte entstehen lässt.“