Vom Untergrund her betrachtet

LÄNDERGESCHICHTE Von dem Meister des englischsprachigen politischen Essays: Perry Andersons aufschlussreiche Analyse der ideologischen Säulen des indischen Subkontinents

Wer schon einmal eine Länderstudie von Perry Anderson über ein Land gelesen hat, in dessen Geschichte, Kultur und Politik man sich gut auszukennen meint, wird wieder einmal beschämt feststellen müssen: Anderson hat außer den bekannten noch viele unbekannte Quellen, aus denen er seine Kenntnisse schöpft. Und er kann schreiben. Kein Wissenschaftsjargon, keine journalistischen Oberflächlichkeiten – im besten Sinne des Wortes weiß der Leser am Ende jeder Seite mehr als am Anfang.

Die 145 Seiten der „Indischen Ideologie“ liest man in einem Zug durch. Eingepackt sind die facts & figures in eine spannende Geschichtserzählung, die mitten in der Gegenwart endet. In der Tat: Ein Essay von Perry Anderson ersetzt ein Regal voller Fachliteratur. Diese Erfahrung konnte man schon mit seinem Türkeibuch „Nach Atatürk“ machen, das ebenfalls im Berenberg Verlag erschienen ist.

Wenn man diese Lektüre hinter sich hat, ist die Ahnungslosigkeit verschwunden, mit der man auf diesen faszinierenden Subkontinent schaut, nicht aber die Ratlosigkeit. Dafür aber kann der Autor nichts; denn sie ist in den komplexen Verhältnissen begründet, die Anderson so brillant zu entfalten weiß. Man ist gut beraten, sich bei Wikipedia Karten auszudrucken, die Indien vor der Kolonisierung, am Ende des Raj, der britischen Herrschaft in Indien, und der Gegenwart zeigen. Erst dann wird sinnlich präsent, warum man vom „Subkontinent“ sprechen muss – und nicht von „Indien“.

Das Ganze als Indien zu sehen ist schon Teil der indischen Ideologie, die aus dem Geist eines antikolonialen Nationalismus geboren ist. In die legitime Dekolonisierung, die dem beherrschenden Weltreich des 19. Jahrhunderts, dem Empire, das Grab schaufelte, mischte sich die religiöse Frage. Vorstellungen von Nation und Religion – notwendige Antriebskräfte von antikolonialer Befreiung – verschleiern die Klassenverhältnisse einer Gesellschaft, die im Kastenwesen Indiens eine besonders scharfe Akzentuierung fanden.

Wenn Aufklärung und Mythos sich verschränken, dann tut Ideologiekritik dringend not. Lange Zeit wurde das nachkoloniale Indien vom Kongress dominiert, dessen Ikonen, die Gandhis und Nehru, das Bild von der indischen Nation in der Welt prägten.

Das Spinnrad als Symbol in der Nationalflagge und der abgemagerte, spirituell wirkende Gründungsvater der Nation im Lotussitz prägten ein zeitloses Image der Gewaltlosigkeit, das nicht nur zur Realität der Gegenwart, sondern auch zur vorkolonialen und kolonialen Geschichte des Subkontinents in schreiendem Widerspruch steht.

Gerade weil es in diesen Gesellschaften so gewalttätig zugeht, konnten Tugendterror, Askese und Vegetarismus zu treibenden politischen Kräften werden. In ihnen vermischen sich die religiösen Rechtfertigungen der Gewalt, die aber nicht in einem simplen Manichäismus von Hinduismus und Islam aufgehen.

Bis heute präsentiert sich der Kongress als Hüter des Säkularismus; aber in Wahrheit ist er nur das kleinere Übel im Vergleich zum hinduistischen Fundamentalismus.

Indien kann zum zentralen Studienobjekt dessen werden, was man „missglückte Säkularisierung“ nennen kann. Verschärft gilt für die großartige indische Kultur das dialektische Wort Benjamins, sie sei auch ein Monument der Barbarei.

Diesen barbarischen Untergrund hinter dem Selbstbild der Eliten sichtbar zu machen gelingt Anderson auf überzeugende Weise. DETLEV CLAUSSEN