: „Es wird immer Wohnungslose geben“
Die Zahl junger Obdachloser nimmt zu, sagt Sozialarbeiterin Susanne Gerull. Doch die staatlichen Einrichtungen hätten sich darauf nicht eingestellt. Hartz IV erschwere die Lage, weil die Bürokratie für Betroffene schwer durchschaubar sei
taz: Frau Gerull, muss man heute in Berlin noch obdachlos sein?
Susanne Gerull: Egal, wie viele Wohnungen wir anbieten – es wird immer einen gewissen Anteil Wohnungsloser geben in dieser Gesellschaft. Die Gründe dafür sind nicht ausschließlich formale Dinge wie „Ich bin abgebrannt“ oder „Ich habe Mietschulden“. Da stehen meist vielfältige Probleme dahinter.
Welche denn?
Beispielsweise wenn Menschen aufgrund einer Alkoholerkrankung oder psychischen Erkrankung ihre Wohnung nicht halten können. Dann geht es nicht nur darum, dass das Geld fehlt, sondern dass es vertrunken wird oder dass jemand aufgrund von psychischen Problemen vielleicht nicht klarkommt, in einer Wohnung zu leben. Wenn man diese Menschen dann nur mit einer Wohnung versorgt, nicht aber mit einer sozialarbeiterischen Unterstützung, dann werden sie sehr schnell wieder wohnungslos werden.
Wer ist denn am häufigsten betroffen?
Meist sind es alleinstehende Männer. Doch Wohnungslose sind nicht nur jene Menschen, die auf der Straße leben. In Deutschland hat jemand, der sich beim Sozialamt als wohnungslos meldet, so lange diesen Status, bis er wieder mit einem „mietvertraglich abgesicherten Wohnraum“ versorgt wurde.
Wie hat sich die Situation der Wohnungslosen in Berlin in den vergangenen Jahren verändert?
Wir sind gerade von aktuellen Zahlen abgeschnitten – durch Hartz IV – und wissen im Augenblick nicht, wie viele Wohnungslose wir in Berlin haben. Laut der letzten Zahl von Ende 2004 lebten rund 6.900 registrierte Wohnungslose in Berlin.
Sind heute andere Menschen betroffen als noch vor zehn Jahren?
Seit vielen Jahren werden die Wohnungslosen immer jünger. Sie werden ja erst gezählt, wenn sie 18 sind; vorher gehören sie in die Jugendhilfe. Die Zahl jener, die schon mit 18, 19, 21 Jahren in der Wohnungshilfe landen, steigt immer mehr. Das ist sehr problematisch, weil diese Menschen einen ganz anderen Hilfeanspruch haben als etwa ein 40-Jähriger, der nach Beziehungskrise, Alkohol, Arbeitsplatzverlust etc. in der Wohnungslosenhilfe gelandet ist. Da müssen andere Einrichtungs- oder Hilfeformen gefunden werden. Und es sollte eigentlich eine gute Kooperation aller Beteiligten geben. Doch da hakt es oft noch.
Gibt es einen Anstieg von Ausländern oder Deutschen mit Migrationshintergrund bei Wohnungslosen?
Das wüsste ich auch gerne, doch das wird nicht erfasst.
Wie ist die Lage bei Frauen?
Bei Frauen gehen wir davon aus, dass ihr Anteil unter den Wohnungslosen deutlich höher ist, als die offiziellen Zahlen sagen. Maximal ein Viertel der Wohnungslosen sind laut den Statistiken Frauen. Das Problem ist aber, dass sie sich oft nicht wohnungslos melden. Sie gehen überwiegend Zwangspartnerschaften, wie wir es nennen, ein. Wenn sie irgendwo rausgeflogen sind – egal ob aus der eigenen Wohnung oder bei einem Partner –, finden sie halt einen anderen Mann oder werden von einem gefunden. Und der sagt dann: „Du kannst bei mir wohnen.“
Geschieht das freiwillig oder unter Zwang?
Zum Teil läuft das auf ein gegenseitiges Abkommen hinaus; zum Teil werden die Frauen auch ausgenutzt bis hin zu sexueller Ausbeutung.
Wie hat sich die Situation von Wohnungslosen durch Hartz IV verändert?
Durch Hartz IV ist es schwieriger geworden, sich in diesem Behördendschungel zurechtzufinden. Es sind jetzt mehrere Stellen dafür zuständig, dass ein Wohnungsloser sein Geld, seine Unterkunftskosten und seine persönliche Unterstützung bekommt.
Wie wird sich die Lage Wohnungsloser weiter entwickeln?
Grundsätzlich bin ich eher pessimistisch. Kostenintensive Übergangshäuser und Kriseneinrichtungen sind massiv gefährdet. Es gibt mehrere Einrichtungen, die unter anderem aufgrund finanzieller Überlegungen noch dieses Jahr schließen werden. Damit werden wichtige Säulen des Hilfesystems in Berlin regelrecht wegbrechen.
INTERVIEW: MARLENE WOLF