: Die Flucht nach vorn
Der Verein Freiabonnements für Gefangene und die taz veranstalten die Reihe „Kriminalpolitische Gespräche“. Auftakt: Ist der Strafvollzug noch Thema für die Linke?
Es war einmal vor langer, langer Zeit: 1985, als das Thema Strafvollzug eine Herzensangelegenheit der Linken war, wurde der Verein „Freiabonnements für Gefangene“ in Berlin gegründet, auch die taz war beteiligt. Der Verein hat sich weiterentwickelt, die taz stellt noch 500 Freiabos zur Verfügung – und doch wünschte sich die taz-Genossenschaftschefin Konny Gellenbeck zum Auftakt der vierteiligen Diskussionsreihe „Kriminalpolitische Gespräche“ im taz-Café in der Rudi-Dutschke-Straße, dass die Situation in den JVAs wieder mehr in den Vordergrund gerät: „Ist der Strafvollzug noch ein Thema für die Linke?“
In Zeiten des Wahlkampfs ist er es zumindest: Rund 20 Jahre später sind die Haftbedingungen in den überfüllten zehn Berliner Knästen schlimmer denn je – und ausgerechnet ein rot-roter Senat beschließt einen Gefängnisneubau in Großbeeren. Gegen den Widerstand der Grünen, deren Vertreter Volker Ratzmann dem Strafvollzug völlige Konzeptlosigkeit vorwarf: „Es handelt sich um ein völlig ineffizientes System, das längst Insolvenz hätte anmelden müssen.“
Minka Dott (PDS) räumte ein, dass ihre Partei zwar immer gegen einen Neubau gewesen sei, nun aber die Flucht nach vorn angetreten habe: „Es geht um das Machbare. Wir werden Großbeeren bauen, dafür können wir später eines der überalterten Gefängnisse schließen.“ Sie stand damit Seite an Seite mit Fritz Felgentreu (SPD), der auf Nachfrage des Moderators Heinz Cornel, Professor für Strafrecht an der Alice-Salomon-Fachhochschule, einen gesellschaftlichen Rückschritt in der Strafvollzugsdebatte feststellte. Felgentreu sprach sich dafür aus, „an die Rechtsprechung heranzugehen“. Die Möglichkeit, infolge der Föderalismusreform eine Justierung des Berliner Strafvollzugsrechts vorzunehmen, bezeichnete er als die eigentliche Herausforderung, denn „einen Dissens haben wir doch auf diesem Podium gar nicht“.
Der WASG-Vertreter Michael Kronawitter bewies das Gegenteil: „Warum nicht eine Amnestie, statt Gefängnisse neu zu bauen? Der Knast ist, was er war: ein Disziplinierungsapparat des Kapitalismus, den ich nach wie vor abschaffenswert finde.“ Kronawitter forderte zur Grenzüberschreitung auf, erinnerte an die Sprengung des Gefängnisneubaus von Weiterstadt („das war auch mal ein linkes Thema“) und riet zur Angela-Davis-Lektüre – was vom Publikum, darunter auch Angehörige des Strafvollzugsbeirats und einige ehemalige Gefängnisinsassen, teils mit Applaus, teils mit Zwischenrufen quittiert wurde: „Amnestie? Zu Weihnachten oder was?“
Es war die ebenfalls auf dem Podium sitzende parteilose Strafverteidigerin Dominique Schimmel, die auf die Streitfrage eine klare Antwort fand: „Nein, der Strafvollzug ist kein Thema mehr für die Linke, denn sie lässt sich den Sicherheitsdiskurs von der Rechten aufzwingen.“
MARTIN REICHERT