: Auf Ochsentour
Noch ist es eine Seltenheit, die Bürgermeisterkandidaten per Annonce zu suchen. Die Goslarer Liberalen haben es versucht -– und eine Christdemokratin aus Schleswig-Holstein bekommen. Aber immerhin eine mit Erfahrung
aus GoslarBenno Schirrmeister
Zug fährt sie, klar, dann lässt sich arbeiten. Mitunter starre sie aber auch nur Löcher in die Luft, sagt Ursula Belker, das brauche man gelegentlich ja auch. Seit März macht sie den Trip regelmäßig: Husum-Goslar, Goslar-Husum, 400 Kilometer, fünfeinhalb Stunden. Zeitkorridore hat sie im elektronischen Taschenkalender markiert, hat in die einen die Auftritte im Nordharz geblockt, in die anderen die Termine ihrer Firma, Belker Energy. Vor einem Jahr hat sie, graue Haare, kurzer Schnitt, das Projektmanagement-Büro für Windkraft-Unternehmen gegründet, in Husum. In Goslar will sie Oberbürgermeisterin werden.
Warum eigentlich? Eine alte Beziehung zur Kaiserstadt? Nein, sagt Belker, auch keine Verwandtschaft im Harz, nicht mal Urlaubserinnerungen oder Liebe zum Bergbau. Hm. Vielleicht sollte man einfach erzählen, wie es gekommen ist. Das war so: Sie ist Ende Februar auf diese Stellenanzeige gestoßen. Per Zufall. „Oberbürgermeister/in in Goslar“ stand, vielversprechend, über der Annonce und zu den Anforderungen zählte, dass er/sie „über umfangreiche Kenntnisse in Fragen der gewerblichen Wirtschaft und des Mittelstandes“ verfügt. Außerdem hätte er/sie sich als Dienstleister zu verstehen und als Anwalt der Interessen Goslars.
Die Diplomverwaltungswirtin Ursula Belker fand sich damit gut beschrieben. Die suchen dich, habe sie sich gesagt, und die Annonce ausgedruckt. Die sei dann doch ewig neben dem Computer gelegen, bis ihr Mann ihr dann geraten hat: Ruf doch da an, wenn es dich so reizt. Was sie getan hat, obwohl die Anzeige von der Ratsfraktion der FDP geschaltet worden war, „und die FDP“, sagt Belker, „ist ja eigentlich nicht so meine Partei“.
Nicht ihre Stadt, nicht ihre Partei, und ein Wahlamt, das per Annonce ausgeschrieben wird – das passt nicht zum althergebrachten Bild des Bürgermeisters: Der hat einst vom Vater das Parteibuch geschenkt bekommen, saß schon als Jugendlicher in den richtigen Vereinen, und besorgt dann, bereits in Amt und Würden, den Bierfassanstich bei der Kirmes. Aber diesen Typus dürfte es nicht mehr geben: Per Gesetz abgeschafft hat ihn das Land 1996 durch die neue Gemeindeordnung. Die alte kannte den Bürgermeister als Grüßaugust, fürs operative Geschäft war die der Stadtdirektor zuständig. Jetzt macht der Bürgermeister beides, sodass Trinkfestigkeit als Schlüsselqualifikation nicht mehr reicht. Zählen müssten Verwaltungskenntnisse. Aber wer hat die schon?
Es regnet in Strömen, aber jetzt zu kneifen wäre Verrat: Im Harz regnet es halt mindestens jeden zweiten Tag. Der wichtige Gast aus Hannover kommt so oder so. Also stiefelt Belker Seit’ an Seit’ mit dem Landes- und Fraktionsvorsitzenden der Partei, die nicht die ihre ist, übers glitschige Altstadtpflaster. „Das Wetter“, scherzt sie, sei ja schon mal „keine große Umstellung“.
Wahlkampf-Erfahrung hat sie auch schon. 1999 war Belker aus Duisburg nach Husum gekommen: Auch als Bürgermeisterkandidatin. Die CDU hatte sie geholt. Und Belker wurde gewählt. In Nordfriesland erinnert man sich an ihren Einsatz für Windenergie und daran, dass sie ein umfangreiches Schulsanierungsprogramm auf den Weg gebracht hat. Außerdem wird sie als beratungsresistent beschrieben, mit einem Hang zu Alleingängen, ohne Rücksicht auf Bürgerproteste. „Ich lasse mich doch nicht erpressen“, so sieht sie selbst das. Nicht einmal in die Stichwahl ist sie danach noch gekommen. Das CDU-Parteibuch hat sie behalten, und will es auch für Goslars Liberale nicht abgeben. „Eine politische Heimat“ sagt Belker, „muss jedem zugestanden werden.“
Philipp Rösler lächelt professionell, Belker fällt das etwas schwerer, die Wangenknochen sind doch sehr markant. Einer der Listenkandidaten trägt grüne Gummistiefel zum Anzug. Zwischendurch wird Halt gemacht an Stellen, wo die FDP etwas bewegt hat für Goslar, wenn auch mit Kompromissen: Die Fußgängerwegweiser sind so ein Fall. Da sei um jeden Buchstaben gerungen worden und zum Schluss habe die Verwaltung eine Höhe von knapp drei Metern durchgesetzt. Ab und an blickt ein vorüberhuschender Einkäufer durch den Tropfenvorhang auf die Menschentraube: Dunkle Herrenschirme, kein einziger in Gelb und Blau. Viele Stimmen wird der kommunalpolitische Spaziergang der FDP nicht bringen. Allerdings ist die Lokalzeitung da und knipst: Ursula Belker und Philipp Rösler vor dem alten Rathaus, einem Meisterwerk der Gotik, von dem Belker sagt, für sie als Außenstehende sei es ein Unding, dass der Oberbürgermeister dort residiere, während die Verwaltung sich selbst überlassen, in einer anderen Immobilie arbeite.
Die Kandidatensuche per Zeitungsanzeige ist noch nicht die Regel. Sie liegt aber im Trend: In Delmenhorst hat die SPD ihren Bewerber Patrick de la Lanne so entdeckt. Und Scott Gissendanner kennt Gemeinden, wo sich „die verschiedensten Parteien zusammen geschlossen haben“ – um „Headhunter zu engagieren“. Gissendanner ist Junior-Professor in Göttingen, Forschungsschwerpunkt: Regierungssystem der Bundesrepublik. Auch die Folgen der neuen niedersächsischen Gemeindeordnung für „Rekrutierung, Wahl und Wirkung direkt gewählter Bürgermeister“ hat er untersucht. Gerade in kleineren Orten „fahnden die Leute oft händeringend“. Und in größeren Städten habe man oft schlechte Erfahrungen mit überforderten Bürgermeistern alten Stils gemacht. „Im Grunde“, so Gissendanner, „ist die Ausschreibung der richtige Weg“.
Sie hat Buch geführt. 3.050 persönliche Kontakte hat Belker seit März in Goslar gezählt, und wenn sie’s überschlägt kommt sie auf rund 1.000 Hausbesuche. In der Stadt kursiert die Geschichte von dem Mann, der ihr, nur mit Slip bekleidet, die Tür geöffnet habe, „deutliche Gebrauchsspuren“ habe die Unterhose aufgewiesen, so Belker.
Wolfgang Just ist sehr zufrieden mit Belker. „Wir haben unsere Entscheidung noch keine Minute bereut.“ Das ist kein Wunder, weil die Partei durch die dynamische Frau bei allen Diskussionsrunden mitredet. „Die FDP unterstützt mich heftigst“, sagt die Kandidatin. Am Vormittag hat Just sie wieder einmal durch die Stadt chauffiert, Einzelgespräch, Pressetermin, Besichtigung eines leer stehenden Einkaufs- und Lagerkomplexes, 3.500 Quadratmeter, kein Steinwurf von der City: Da muss etwas geschehen. Am Abend sitzt sie bei einem Unternehmerverein auf dem Podium und ihre Gegenspieler versuchen, die Auswärtige mit Lokalkompetenz auf dem falschen Bein zu erwischen: Der grüne Kandidat tut so, als hätte er ihren Namen noch nie gehört und sagt immer „Bleker“ statt Belker. Und der CDU-Mann, der anfangs ein Parteiausschlussverfahren gegen sie anstrengen wollte, gibt ihr den väterlichen Rat, sich den Stadtteil Oker einmal anzusehen, dann … Aber da keult sie zurück. Kennt sie ja schon. Hat sie alles abgeklappert.
Bürgermeisterkandidaten, die nicht aus dem Ort stammen, sind nicht zwangsläufig chancenlos. „Manchmal“, sagt Gissendanner, „denken die Leute wohl: Die von hier sind alle Deppen.“ Aber nicht in Niedersachsen.
Gut, Goslar hat fast 44.000 Einwohner, der OB bekommt also B5, das macht 6.820,95 Euro pro Monat plus Aufwandsentschädigungen. Und das acht Jahre lang. Aber die Aussichten sind doch mehr als vage. Und für die Ochsentour gibt es kein Geld. Also: Warum? „Es ist mein Beruf“, versucht Belker eine Antwort. Ob sie denn an den eigenen Sieg glaubt? „Ob es reicht, weiß man nie.“ Und wie reagieren die Goslarer? „Positiv“, sagt Belker, „sehr positiv.“ Und wiederholt, noch einmal, damit es wirklich stimmt: „Vom Grundsatz deutlich positiv.“