: Der große Auftritt
BUCHMESSE Die Schweiz kommt nicht im offiziellen Gewand der Staatskultur, sondern mit Gastgeschenken. Den Auftritt des Schwerpunktlands auf der Leipziger Buchmesse hat Thomas Böhm organisiert
Ein Abend im Kölner Literaturhaus, vor nicht allzu langer Zeit. Vier Menschen, die miteinander reden, auf einem Podium. Es wird spät, die Veranstaltung geht über zwei Stunden. Das Publikum bleibt dabei, bis zum Schluss. Niemand gähnt, niemand geht frühzeitig, es entsteht nicht die übliche Unruhe. Später dann, beim Wein, kommt eine ältere Dame zum Moderator des Abends. Der äußert sein Erstaunen über das Publikumsverhalten. Die Dame antwortet: „Ja, der Herr Böhm hat uns das Zuhören beigebracht.“
Wenn man Thomas Böhm diese Episode erzählt, wird ihm, wie er selbst sagt, „ganz heiß und kalt vor Freude“. Sie drückt aus, wofür der 1968 geborene Böhm steht: Er kann Menschen für Literatur begeistern, er kann sie einnehmen, mitreißen, zur Not auch plattreden; er hat Ideen, Möglichkeiten und eine ungeheure Bandbreite von Zugängen zu Themen und Präsentationsformen. Mehr als zehn Jahre lang, bis 2010, hat Böhm dem Literaturhaus Köln als Programmleiter vorgestanden. Als er anfing, war er ein junger Mann mit einem großen Fundus an Visionen; als er ging, war er einer der renommiertesten und beliebtesten Literaturvermittler des Landes, der mit einer Mischung aus Kompetenz, Forschheit und Freundlichkeit die Menschen auf eine gute Sache einzuschwören versteht.
Böhm ging nach Berlin, wo er das Programm des Internationalen Literaturfestivals kuratiert, von wo aus er aber auch für andere große Projekte verantwortlich zeichnet: Der von Böhm federführend gestaltete Auftritt des Frankfurter-Buchmesse-Ehrengastes Island im Jahr 2011 war nach übereinstimmender Meinung der beste, an den man sich erinnern kann. Dass man sich überhaupt noch erinnert, ist bemerkenswert. Nun hat Thomas Böhm auf der Leipziger Buchmesse den Schweizer Länderschwerpunkt kuratiert, eine, wie er sagt, komplett andere Herausforderung: „In Frankfurt geht es um ein ganzes Jahr, um ganz Deutschland und um sämtliche Disziplinen, über Theater und bildende Kunst bis hin zur Literatur.“ Das Leipziger Schwerpunktland dagegen konzentriere sich ausschließlich auf den Auftritt am Ort in den Tagen während der Messe.
„Auftritt“ – das ist ein Wort, auf das Böhm besonderen Wert legt. Nicht „Schwerpunkt“, nicht „Gastland“. Auch das gehört zu den Stärken eines begabten Literaturvermittlers: Ereignisse zu bündeln und mit einem Label zu versehen. „ ‚Auftritt‘ “, so sagt Thomas Böhm, „ist ein Wort, das auch die Länder in den kommenden Jahren benutzen können. Das nenne ich Nachhaltigkeit.“ Das Modewort „Nachhaltigkeit“ wurde bereits im 19. Jahrhundert von dem Schriftsteller Jeremias Gotthelf verwendet – und der war Schweizer.
Auch dem Schweizer Auftritt liegt eine Idee zugrunde: „Jeder, der nach Leipzig kommt“, erklärt Thomas Böhm, „genießt die entspannte, lockere Atmosphäre, die während der Messe dort herrscht. Das Publikum ist offen und dankbar.“ Nun wolle man den Leipzigern etwas zurückgeben: Die Schweiz komme nicht im hochoffiziellen Gewand der Staatskultur, sondern mit Gastgeschenken.
40 knallrote Lesebänke sind während der Messe im Innenstadtbereich aufgestellt, die jeweils Orte mit einem Bezug zur Schweiz markieren sollen; diese Bänke bleiben auch nach der Messe in der Stadt und sollen im Clara-Zetkin-Park den Grundstock zu einem Schweizer Lesepark bilden. Im Schauspielhaus Leipzig treten an den Messetagen vom Nachmittag bis in den späten Abend Schweizer Autoren und Künstler auf. Am Stand auf der Messe wird ein kleines Lesebuch an die Besucher verteilt – gebunden in Schweizer Broschur und gestaltet in Form eines Schweizer Kreuzes.
„Es geht hier“, betont Thomas Böhm, „nicht um den Markt und nicht um die Buchbranche, es geht nicht um den Verkauf von Rechten und Lizenzen, sondern ausschließlich um das Publikum.“ Und selbst für diejenigen, die es nicht nach Leipzig schaffen, gibt es auf der Homepage des Schweizer Auftritts die Möglichkeit, auf Reisen zu gehen: Eine literarische Landkarte listet detailliert und informativ Schauplätze von belletristischen Werken quer durch die Jahrhunderte auf – eine Idee von Tim Guldimann, dem Schweizer Botschafter in Berlin, die Thomas Böhm gerne aufgenommen hat. Berührungsängste kennt er nicht: „Fantastische Ideen kann jeder haben, wenn er erst einmal von einer Sache überzeugt ist.“
CHRISTOPH SCHRÖDER