: Die Guerillera aus dem Reihenhaus
DSCHUNGELKAMPF Als linke Studentin ging Tanja Nijmeijer nach Kolumbien. Dort wurde die Niederländerin zur Farc-Rebellin, vom Geheimdienst gesucht. Ist sie jetzt gestorben? Eine Spurensuche
■ Der Mensch: Nijmeijer wird 1978 geboren und wächst in einer niederländischen Mittelstandsfamilie auf. Ihr Vater arbeitet bei der Gemeinde, die Mutter ist Hausfrau. Nijmeijer studiert romanische Sprachen und Kultur. Im Jahr 2000 fliegt sie für ein Praktikum in die kolumbianische Kaffeezone.
■ Die Farc: Während Nijmeijer in einer noblen Privatschule unterrichtet, knüpft sie erste Kontakte zur Guerilla. Sie will gegen Armut und Ungleichheit in Kolumbien kämpfen. 2004 schreibt sie ihrer Familie, dass sie Mitglied der Farc sei. Die „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ bezeichnen sich als marxistisch und bekämpfen seit Anfang der sechziger Jahre mit Waffen den Staat. Die Farc gilt als größte Guerillaorganisation Lateinamerikas. Sie finanziert sich auch mit Drogenhandel.
■ Das Tagebuch: Bei der Stürmung eines Rebellenlagers findet die kolumbianische Armee 2007 das Tagebuch Nijmeijers. Aus dem Enthusiasmus von einst ist Verbitterung geworden. Nijmeijer zweifelt. Ihre Spur verliert sich im Urwald. 2009 wird sie in Abwesenheit angeklagt. Die Niederländerin soll in Bogotá mehrere Bombenanschläge verübt haben. Der kolumbianische Geheimdienst geht davon aus, dass Nijmeijer zur Führungsriege der Farc gehört.
AUS KOLUMBIEN FREDERIK OBERMAIER
Ihre Abschiedsmail schreibt Tanja Nijmeijer im Februar 2003 aus Bogota. Für ein halbes Jahr sei sie weder via Internet noch per Telefon zu erreichen. Als sie das lesen, ahnen ihre Kommilitonen zu Hause in den Niederlanden, dass sie vorhat, sich den kolumbianischen Rebellen anzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt plant die 25 Jahre alte Nijmeijer in Kolumbien schon ihre ersten Anschläge mit der Guerilla, während sie tagsüber als Englischlehrerin arbeitet. Wenig später taucht Nijmeijer komplett unter. Es werden fast zwei Jahre ohne ein Lebenszeichen von ihr vergehen.
Je länger es um Tanja Nijmeijer still ist, desto lauter hallen all die Fragen wieder: Wer ist diese hübsche Frau mit den dunklen Augen, die auf Fotos in Tarnkleidung mit Gewehr und Patronengürtel posiert? Die auf einem Video ihre Eltern grüßt. Ihnen zu erklären versucht, warum sie zu den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens ging, zur Farc – zu Südamerikas ältester noch aktiver Guerilla-Gruppe. Einer Rebellenarmee, die immer wieder mit Entführungen, Drogenhandel und Morden für Schlagzeilen sorgt. Nijmeijer ist heute 32 Jahre alt. Wenn sie noch lebt. Manche glauben, dass sie für ihren Idealismus schon gestorben ist. Andere berichten, sie gehöre zur Führungsriege der Farc – sie bombe und morde. Tanja Nijmeijer ist ein Rätsel.
Man muss nach Pereira gehen, um Teile dieses Rätsels zu lösen, um zu verstehen, wie aus einer niederländischen Studentin eine Guerillera wurde. In die schwül-warme Stadt in der kolumbianischen Kaffeezone kommt Nijmeijer im Sommer 2000. Die Villen der Reichen sind hier mit Stacheldraht umzäunt. Nur wenige Schritte entfernt beginnen die barrios populares – Slums aus Brettern und Wellblech, deren Bewohner sich mit dem Verkauf von gegrillten Maiskolben oder als Schuhputzer die nötigen Pesos zum Überleben verdienen. Nijmeijers Praktikumsplatz, die Privatschule Liceo Pino Verde, ist ein herrschaftliches Anwesen zwischen Palmen und Mangobäumen. Hier bringt sie den Söhnen und Töchtern von wohlhabenden Ärzten und Unternehmern Englisch bei.
Diana Angel sitzt hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch und blättert durch einen Stapel loser Papiere. Angel war Nijmeijers Chefin. „Tanja war eine sehr professionelle und liebenswerte Lehrerin“, sagt sie. Die Artikel, die vor ihr liegen, erzählen eine etwas andere Geschichte über ihre Praktikantin. Angel hat sie im Internet zusammengesammelt. Sie hat sie wieder und wieder gelesen. Warum hat Nijmeijer, die in Europa alle Möglichkeiten hatte, den Weg nach Lateinamerika gewählt, in die Camps der Guerilla? Sie begreift das nicht.
Natürlich war Angel und ihren Kolleginnen aufgefallen, dass Nijmeijer unter der Ungleichheit in Kolumbien litt. Dass sie Schuldgefühle entwickelte, weil sie selbst so behütet aufgewachsen war. Sie trug das ganze Jahr dieselbe grüne Hose und erzählte ihren Schülern, dass sie das aus Solidarität mit den Menschen auf der Straße tue. Die hätten auch nur eine Hose.
Irgendwann genügt Nijmeijer diese symbolische Solidarität nicht mehr. Sie will wirklich etwas bewegen. Vielleicht hat einer ihrer Liebhaber ihr neue Wege gezeigt. Einer, ein Violinist, erinnert sich Angel, hat an der Uni in Manizales studiert, ein paar Kilometer von Pereira entfernt. An der Hochschule sollen geheimen Guerilla-Solidaritätsgruppen operieren. Nijmeijer sei „ein richtiger Sturkopf“ gewesen. „Ich habe mit ihr gestritten, dass sie doch nicht nachts mit dem Bus übers Land reisen solle – aber sie hat nicht auf mich gehört.“ Sogar nach San Vicente sei Tanja gefahren. Angel schüttelt den Kopf.
San Vicente del Caguán – dieses kleine 25.000-Einwohner-Städtchen im Südosten Kolumbiens, am Tor zum Amazonas, war die Hauptstadt von Farclandia. Einer Zone, aus der sich der Staat zurückgezogen hatte, um mit der Guerilla Waffenstillstandsverhandlungen zu führen. Der Weg dorthin glich im Jahr 2000 einem Selbstmordkommando. Die franko-kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt wurde hier entführt.
Wo heute Viehhändler und Bauern zwischen dreckverschmierten Pickups und Eselskarren Hahnenkämpfe veranstalten, hatten die Guerilleros das Sagen. Sie organisierten Bolz-Turniere, Salsa-Abende und ließen Guerilleras in knappen Uniformen aufmarschieren. Es kann gut sein, dass Nijmeijer hier den öffentlichen Vorträgen der Rebellen lauschte, die gezielt junge Europäer für den bewaffneten Kampf werben wollten. Einem Kampf gegen die „ausbeuterische Oligarchie“, gegen die Amerikaner, den Staat.
Als Nijmeijer nach ihren ersten Monaten von dort in die Niederlande zurückkehrt, kommt sie ihren Kommilitonen verändert vor. In Groningen zieht sie in ein besetztes Haus namens Op drift, das heißt „auf Trab“. Nicht weit von der Uni trafen sich dort Anarchisten und Antiimperialisten, Bush-Gegner und Punks. Der Groninger Journalist Remco in’t Hof begegnet Nijmeijer im Juli 2001 im Erdgeschoss von Op drift. Er hat gehört, dass sie wieder nach Kolumbien will, um Hilfsgüter an die Landbevölkerung zu verteilen. In einem abgesessenen Ohrensessel, zwischen Chai trinkenden Althippies und Joints rauchenden Neulinken, spricht in’t Hof mit Nijmeijer. „Sie war ein sehr, sehr attraktives, aber irgendwie mysteriöses Mädchen“, erinnert sich der Journalist. Sie sagt: „Viele Leute in meinem Alter sind so individualistisch. Ich sehe mich selbst als Teil eines größeren Ganzen und dieser Teil kann vielleicht in der Welt etwas verändern.“
Von Amsterdam fliegt Nijmeijer im August 2001 erneut nach Bogotá. Mit der Caravana internacional por la vida, einer linksgerichteten Hilfsaktion europäischer und kolumbianischer NGOs, bricht sie auf nach Barrancabermeja – der „Hölle von Kolumbien“, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, wegen der drückenden Hitze und dem Schwefelgestank der nahen Ölraffinerie. Zwei Tage lang quartieren sich die Aktivisten in einer Gewerkschaftsschule ein. Unter den Graffiti-Blicken von Che Guevara empfangen Nijmeijer und ihre Mitstreiter Bauern, Bürger und Lokalpolitiker, um deren Geschichten zu hören: wie die rechtsgerichteten Paramilitärs der Drogenbarone und Großgrundbesitzer 1999 die Stadt und ihre Umgebung besetzten. Wie sie Regeln aufstellten ähnlich wie die Taliban in Afghanistan – keine Drogen, keine Miniröcke. Und wie der Magdalena-Fluss fast täglich Leichenteile anschwemmte – von den Paramilitärs zerstückelte Menschen. 800 Tote in nicht einmal zwei Jahren.
Per Boot reist der Tross weiter, den sumpfig-braunen Magdalena hinunter. So erzählen es Mitreisende heute. Bald versperren mehrere Hundert Menschen den Friedensaktivisten den Weg, umkreisen sie mit Fischerbooten, schreien die jungen Leute an. Die Paramilitärs haben sie geschickt. Sie werfen den Aktivisten vor, die Guerilleros zu unterstützen.
Nijmeleijer nimmt eine Gitarre. Sie spielt „One“ von U2. „Wir hatten alle Angst“, erzählt eine Caravana-Teilnehmerin. Nur Nijmeijer sei ganz gefasst gewesen.
Nach einer kalten Nacht voller Ungewissheit können die Aktivisten weiterreisen. Dutzende Kilometer flussabwärts wird ihre Ankunft von den Guerilleros der ELN gefeiert, von Kolumbiens zweitgrößter Guerillagruppe. Ob das Treffen geplant war, lässt sich nicht genau sagen, Nijmeijers Mitaktivisten schweigen dazu noch heute. Käme heraus, dass sie mit der Guerilla kooperiert haben, würde ihnen eine Anklage drohen.
Nach vier Wochen kehrt Nijmeijer noch einmal zurück nach Groningen. Sie hat jetzt nur ein Ziel: sich von ihrem bisherigen Leben verabschieden. Sie regelt alles Nötige für ihre Abschlussarbeit, die sie im Januar abgeben wird. Jan Blauuw, einem Reporter der Groninger Universitätszeitung, erzählt sie vom „Dreck unseres Wohlstands, unseres kapitalistischen Systems“, der in Kolumbien liegen bliebe. Nichts dagegen zu tun, sei für sie keine Option. Dann verlässt sie das Land. Die Bitte ihrer Eltern, zu bleiben, ignoriert Nijmeijer. Sie erzählt ihnen, dass sie als Indio-Lehrerin in den Urwald gehen will und für ein halbes Jahr nicht zu erreichen sei. Vermutlich hat sie da schon einen ganz anderen Plan.
Es verstreichen zehn Monate ohne ein Lebenszeichen von Nijmeijer. Ihre Eltern kontaktieren das Internationale Rote Kreuz. Ist ihr etwas zugestoßen? Keine Spur von der 25-Jährigen.
Nijmeijer zieht mit dem Kommando Frente Antonio Nariño durch den kolumbianischen Dschungel. Sie watet durch Flüsse, robbt durch knietiefen Morast und übersetzt Texte für Carlos Antonio Lozada, den Militärplaner der Farc. Sie ist auch dabei, als im Sommer 2003 drei amerikanische Geiseln verhört werden. Die Männer hatten im Auftrag der US-Regierung nach versteckten Koka-Feldern gesucht und mussten nach einem Motorschaden mit ihrem Flugzeug im Dschungel notlanden. Dort wurden sie von der Guerilla gefangen genommen. Nach Wochen der Ungewissheit trafen sie auf Nijmeijer. „Sie war eine Möchtegern-Revolutionärin“, erinnert sich Marc Gonsalves. Die junge Frau mit dem bauchfreien Top, deren Flecktarn-Hosen ganz tief saßen, er hielt sie für ein verzogenes Stadtkind auf der Suche nach Abenteuer. Sie kam ihm kaltblütig vor: Auf die Frage, was bei einem Befreiungsversuch mit den Geiseln geschehe, sagt sie: „Wir töten jeden.“
Ende 2004 erhalten Nijmeijers Eltern per Mail einen eingescannten Brief. In ihrer Handschrift steht da, dass Nijmejier jetzt der Farc angehöre. „Tanja ist immer schon sehr sensibel für die Armut in der Welt gewesen“, erklären beide in einem ihrer wenigen Medienstatements, „sie hatte große Probleme mit den Unterschieden zwischen Arm und Reich.“ Indem sie sich der Farc angeschlossen habe, sei sie „sehr weit in ihrem Idealismus fortgeschritten“.
Noch in der gleichen Nacht, als eine holländische Zeitung zum ersten Mal über Nijmeijer berichtet, tauchen ihre Eltern unter. Sie flehen Nachbarn, Freunde und Bekannte an, der Presse und den Behörden nichts zu sagen. „Nijmeijer? Gibt’s hier nicht“, antwortet die blonde, untersetzte Friseuse im Salon Huub in Denekamp selbst Jahre später noch. Dabei stehen allein dreißig Nijmeijers im Telefonbuch. Nijmeijers Eltern sind längst in ihre Doppelhaushälfte zurückgekehrt: gestutzte Buxbäumchen im Garten, ein silberner Mittelklassewagen im Carport, nur das Klingelschild fehlt. Hannie und Gerrit Nijmeijer reagieren nicht auf die Haustürklingel, auch nicht auf Anrufe.
Von dem Reihenhaus ihrer Eltern ist Nijmeijer nach dem Abitur zum Studieren ins nahe Groningen gezogen. Einem ihrer Professoren erscheint sie nicht wie eine Extremistin, „aber sehr weit links eben“. Er versucht, ihr von einem Praktikum in Kolumbien abzuraten. Die Farc hat mit ihren 20.000 Mann fast die Hälfte des Landes unter Kontrolle, sogar Teile der Hauptstadt.
Von ihrer Uni-Vergangenheit ist Nijmeijer weit entfernt, als sie ihre Familie in einer E-Mail einlädt, sie im kolumbianischen Dschungel zu besuchen. Um ihre Sicherheit werde sich die Farc kümmern. Die Eltern zögern. In ein Camp der Guerilla? Sie versuchen ein Treffen in Venezuela zu arrangieren. Ohne Erfolg. Im November 2005 schließlich fliegt Nijmeijers Mutter Hannie allein nach Kolumbien.
Eine Woche bleibt sie bei Tanja. Sie ist beruhigt, ihre Tochter gesund zu sehen. Gemeinsam schauen sie Fotos vom letzten Familienurlaub in der Türkei an und sprechen über den Groll, den einige Familienmitglieder auf sie haben. Hannie Nijmeijer fleht ihre Tochter an, das Guerilla-Leben aufzugeben. „Sie war aber nicht davon abzubringen.“ Sie schießen noch ein Erinnerungsfoto. Dann fliegt Hannie Nijmeijer heim. Die Nachrichten ihrer Tochter werden nun seltener und kürzer.
Ihr Tagebuch ist ein Dokument des Zweifels
Nijmeijers Tage sehen aus wie die aller Farc-Kämpfer. Aufstehen um halb fünf. Holzsammeln, Gräben ausheben, kochen. Aus Tanja Nijmeijer wird Alexandra, Eillen oder schlicht La Holandesa. Als Europäerin bleibt sie die Exotin in den Reihen der Guerilleros, spricht nicht viel mit Kameraden. Die verstehen sie nicht. Warum gibt eine junge Frau aus Europa ihr Leben im Wohlstand auf? Für einen Kampf, der nicht der ihre ist.
Im Mai 2007 bricht Nijmeijers Kontakt zu ihren Eltern wieder ganz ab. Kein Anruf, keine Mail, keine Postkarte. Einige Wochen später, am 18. Juni 2007, greift eine Spezialeinheit der kolumbianischen Armee ein Lager der Farc an. Die Soldaten erwischen die Rebellen mit heruntergelassenen Hosen: Als die ersten Schüsse fallen, baden viele von ihnen im nahen Guayabero-Fluss. Sie fliehen nackt in den Dschungel. Zurück bleiben drei tote Farc-Mitglieder und ein brisanter Fund: Neben der glimmenden Feuerstelle entdecken die Soldaten zwei linierte, von Feuchtigkeit aufgewellte Spiralblöcke: handgeschriebene Notizen, größtenteils in einer Sprache, die sie nicht kennen. Niederländisch. Es ist das Tagebuch von Tanja Nijmeijer. Kopien werden kolumbianischen Journalisten zugespielt und veröffentlicht. Nijmeijers Eltern identifizieren die Handschrift als echt.
Es ist ein Dokument des Zweifels. Während der finsteren Nachtwachen grübelt Nijmeijer. Wird sie ihre beiden Schwestern, deren Fotos sie in einem kleinen Medaillon stets bei sich trägt, jemals wiedersehen? „Manchmal träume ich von Mama und Ellen und danach wache ich weinend auf. Es ist stets die gleiche Frage: Habe ich das Richtige gemacht? Wäre ich glücklich geworden, wenn ich als normale Bürgerin zu Hause geblieben wäre?“ Sie erwähnt „viele Zweifel“. Zwischen den Zeilen: Überdruss und Enttäuschung. „Ich bin der Farc müde. Was ist das für eine Organisation, in der einige wenige Geld haben, Zigaretten und Süßigkeiten, und in der die anderen betteln müssen, nur um zurückgewiesen oder von den Oberen angeknurrt zu werden?“
Langsam scheint Nijmeijer zu begreifen, dass sie für ein Ideal kämpft, das nur noch in ihrer Vorstellung existiert. Dass aus einer Gruppe armer Freiheitskämpfer eine Guerilla de luxe geworden ist. „Ich weiß nicht, wohin dieses Projekt führt“, schreibt sie am 28. April 2007. „Wie wird es sein, wenn wir an der Macht sind? Die Frauen der Kommandanten in Ferrari Testarossas, mit Brustimplantaten, Kaviar speisend?“ Nijmeijer hadert. An anderen Tage klingt sie begeistert: „Hier bewege ich mich wie ein Fisch im Wasser. Der Dschungel ist meine Heimat. Die Farc ist mein Leben, meine Familie.“
Nach dem Bekanntwerden von Nijmeijers Tagebuch gehen die Rebellen in die PR-Offensive. Mit dem Versprechen, Nijmeijer treffen zu können, lockt ein Farc-Sprecher ein TV-Team in den Dschungel. Den Journalisten diktiert er: „Wenn Tanja sagt ‚Ich will nach Holland, ich will einen Monat mit meiner Familie verbringen, meine Cousinen treffen‘ kann sie gehen und fertig.“ Sie müsse nur zurückkommen.
Nijmeijer selbst ist während des Interviews jedoch nicht in dem Camp. Sie habe an einer mysteriösen Krankheit gelitten, sagen später zwei desertierte Leibwachen von Farc-Führer Manuel „Tirofijo“ Marulanda. Sie musste ihre Waffen abgegeben. Zu groß sei die Angst gewesen, dass sie desertieren könnte. Der kolumbianische Geheimdienst behauptete zu wissen, dass sie sich im März 2008 vor einem Volkstribunal der Guerilla verantworten soll. Es droht ihr der Tod durch ein Exekutionskommando der Rebellen. Denn Kritik duldet die Farc nicht. Auch nicht, wenn sie nur in einem Tagebuch geäußert wird.
„Komm bitte zurück“, ruft die Mutter übers Radio
Zu einer Verurteilung kommt es nicht. Der März wird zum schwärzesten Monat der marxistischen Rebellengruppe: Das kolumbianische Militär bombardiert ein Guerilla-Camp im ecuadorianischen Grenzgebiet und tötet Farc-Strippenzieher Raúl Reyes. Ein hochrangiger Kommandeur wird kurz darauf von seinem Leibwächter ermordet. Dann, am 26. März, stirbt Guerilla-Greis Manuel Marulanda, angeblich an einem Herzinfarkt.
Doch was ist mit Tanja Nijmeijer? Monat für Monat verstreicht ohne ein Lebenszeichen von ihr. Drei Jahre lang bleibt sie verschollen. Einige Medien spekulieren über ihren Tod. Anfang 2009 dann die überraschende Wende: Nijmeijer wird in Abwesenheit angeklagt. Der kolumbianische Geheimdienst hat Hinweise, dass sie in Bogotá Bombenanschläge auf eine Polizeistation, einen Supermarkt und die Schnellbuslinie TransMilenio verübt hat. „Tanja Anamary Nijmeijer“, angeblich die rechte Hand von Farc-Vize Mono Jojoy, wird per Steckbrief gesucht. Bei ihrer Familie wächst die Angst. Nijmeijers Mutter fliegt erneut nach Kolumbien und reist tief in den Dschungel, direkt ins Rebellengebiet – dorthin, wo die Guerilla-Einheit ihrer Tochter vermutet wird. Über einen Radiosender der Armee ruft sie: „Liebes Mädel! Wir vermissen dich sehr. Komm bitte zurück zu uns! Melde dich!“
Die Botschaft kommt an. Jedenfalls erklärt Nijmeijers Vater im März 2010 in der niederländischen Presse, dass die Familie ein Lebenszeichen erhalten habe. Auf einer Homepage der Guerilla erscheint ein Artikel über „die Niederländerin, die in der Farc dient“. Nijmeijer, die der Autor abwechselnd „Alexandra“ und „Holanda“ nennt, sei „eine Kämpferin, die denkt und spricht wie die Guerilleros“ und auch wie sie zu schießen weiß. „Das schwere Gepäck auf dem Rücken, ihr Gewehr schussbereit in der rechten Hand. Das ist die echte Holanda.“
Mit dem Gewehr in der Hand ist Nijmeijer nun womöglich auch gestorben. Am Donnerstag berichtete die kolumbianische Wochenzeitung Semana, dass Tanja Nijmeijer bei einem Angriff auf ein Guerilla-Lager getötet worden sei.
■ Frederik Obermaier, 26, ist freier Journalist in München
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