: Vom Ende der Arbeitsgesellschaft
SOZIALPHILOSOPHIE Alter Knarz oder Wiederentdeckung eines großen Theoretikers? André Gorz und seine „Kritik der ökonomischen Vernunft“
VON ANNETTE JENSEN
Für gewöhnlich liefern zwanzig Jahre alte Sachbücher keine brauchbare Gegenwartsanalyse und sind allenfalls von historischem Interesse. Nicht so die „Kritik der ökonomischen Vernunft“ von André Gorz, das der Schweizer Rotpunktverlag gerade neu aufgelegt hat. Der französische Sozialphilosoph hat das Werk noch vor dem Fall der Berliner Mauer geschrieben – und doch hat man an vielen Stellen den Eindruck, einen aktuellen Text über die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu lesen.
„Die Öffnung der nationalen Wirtschaftsräume gegenüber dem Weltmarkt und die Verschärfung der internationalen Konkurrenz wurden damit für die nationalen Bourgeoisien zu einer vortrefflichen Waffe in ihrem Kampf gegen den Staatsinterventionismus“, so Gorz. Mit Hinweis auf die schwindende Konkurrenzfähigkeit werde der Wohlfahrtsstaat geschleift, die Gesellschaft gespalten – und die Linke stehe da ohne Programm, Konzept und Perspektive. Grundlegende Forderungen nach Frieden, Rechts- und Chancengleichheit würden nur noch von kollektiven Bewegungen vertreten, „da die Parteien mit den Regierungs- und Verwaltungsmaschinen verwachsen sind, die jede Möglichkeit der Diskussion über gesamtgesellschaftliche Ziele versperren.“
Knechte und Tagelöhner
Zu Beginn des an manchen Stellen etwas redundant wirkenden 400-Seiten-Werks geht es André Gorz um einen historischen Abriss, welche Bedeutung Arbeit in der Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten hatte. In der Antike wurde sie vor allem Sklaven und Frauen aufgehalst und in den privaten Bereich verbannt; das öffentliche Leben sollte frei von derartigen Notwendigkeiten sein. Bis ins 18. Jahrhundert blieb sie als Mühsal Knechten und Tagelöhnern vorbehalten, während Handwerker „werkten“ und auch für andere Gesellschaftskreise Tätigsein als Teil der je eigenen Existenz galt.
Zu Beginn der Industrialisierung standen die Fabrikbesitzer zunächst vor dem Problem, dass die Arbeiter nach Hause gingen, sobald sie den fürs Überleben notwendigen Lohn verdient hatten. Doch für das kapitalistische Wachstumssystem werden zum einen Leute benötigt, die berechenbar und austauschbar sind. Zum Zweiten müssen sie zu Konsumenten gemacht werden, die nicht nach dem Motto leben „ genug ist genug“, sondern durch Werbung zu immer höherer Nachfrage stimuliert werden. Produktion und Bedürfnisse vollständig voneinander abzukoppeln und die Erwerbsarbeit zum quasi höchsten Gut zu erheben – diese kulturelle Prägung drückte der Kapitalismus der Gesellschaft auf.
Arbeitsteilung und Selbstbestimmung
Dennoch sah Marx in den von ihrer Arbeit völlig entfremdeten, entindividualisierten Proletariern das Potenzial zur Emanzipation: Nach der Revolution würden sie in der gesellschaftlichen Produktion auch ihre persönliche Aufgabe erblicken. Gorz erteilt dieser Perspektive eine klare Absage: Die arbeitsteiligen Strukturen führen dazu, dass jede Eigeninitiative das große Ganze stört und der Einzelne sich den undurchschaubaren Abläufen unterordnen muss. Niemand könne sich in solcher Umgebung als selbstbestimmt erleben. „Damit ähnelte die sozialistische Moral in frappanter Weise der von Max Weber beschriebenen protestantischen Berufsethik.“
Gorz beschreibt die kulturellen Wendungen, die mit dem Einzug der Marktwirtschaft in alle Lebensbereiche und mit der zunehmenden Rationalisierung der Produktion einhergehen: Die sozialen und familiären Netze werden lockerer, der Sozialstaat muss einspringen und wird doch nie zu einer Solidargemeinschaft – weswegen er jetzt ohne viel Widerstand sturmreif geschossen werden kann. Die Beschäftigten spalten sich in eine von den Gewerkschaften vertretene Facharbeiterelite und prekär arbeitende Hilfstruppen. Die Inhaber gut bezahlter Jobs dürfen – legitimiert durch ihre angeblichen Fähigkeiten – wieder das Gefühl genießen, ihre Arbeit und ihr Leben seien keine getrennten Sphären. Niedere Tätigkeiten lassen sie von Dienstboten verrichten, die oft aus fernen Ländern kommen und ihre eigenen Bindungen und Interessen vollständig hintanstellen müssen.
Gorz bleibt bei dieser Beschreibung nicht stehen. Es geht ihm darum, eine gangbare Alternative aufzuzeigen. Weil das gesellschaftlich notwendige Arbeitsvolumen schrumpft, gibt es eine „historische Chance, die in der Geschichte der Menschheit noch niemals gegeben war: die frei gestaltbare Zeit aller kann bei entsprechender Arbeitsumverteilung länger sein als die Arbeits- und Rekreationszeit“.
Gorz hält nichts davon, den Arbeitsbegriff auf persönliche Beziehungen wie die Sorge für ein Kind auszudehnen und alle Tätigkeiten marktwirtschaftlich zu betrachten. Ironisch treibt er das auf die Spitze, wenn er vorschlägt, sexuelle Beziehungen zu dem Preis zu bewerten, den jeder der beiden Partner im Eroscenter berappen müsste oder den Orgasmus als Teil der Arbeit zu definieren, weil er die berufliche Kreativität stimuliere. Es geht ihm um eine Gesellschaft, in der möglichst alle die Chance haben, ihre Wünsche und Potenziale jenseits der Arbeit auszuleben. Bei entsprechender Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten wäre das kein Problem, so meint zumindest Gorz.
■ André Gorz: „Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft“. Deutsch von Otto Kallscheuer, Rotpunktverlag, Zürich 2010, 450 Seiten, 28 Euro