: Schlamm und Pilotfische im Chaco
KOMMENDE GENERATION Carlos Busqued hat mit „Unter dieser furchterregenden Sonne“ einen neoexistenzialistischen Unterschichten-Thriller geschrieben. Ein furioser Erstling aus Argentinien
VON ANDREAS FANIZADEH
Das ist keiner für Thilo Sarrazin: Carlos Busqued. Das Autorenfoto auf dem Umschlag des Buches zeigt Busqued in Sandalen mit Klettverschluss und in Dreiviertelhose. Breitbeinig, die Arme verschränkt, den Blick abgewandt, steht er vor einer mit Graffiti besprühten Wand. Busqued ist – oder will das zumindest optisch signalisieren – so ziemlich das Gegenteil eines smarten Newcomers aus den Quartieren der Reichen und Schönen. Carlos Busqued, 1970 in der nordargentinischen Provinz Chaco geboren, lebt zwar heute wie so ziemlich alle argentinischen Intellektuellen in der Hauptstadt Buenos Aires. Doch augenscheinlich legt er wert darauf, Distanz zur Mitte und den Eliten der Gesellschaft zu halten.
Busqued, die Dreitviertelhose, könnte nach dem Autorenbild auch ein kleiner Macker sein. Doch in seinem Roman „Unter dieser furchterregenden Sonne“ erweist er sich als ein sensibler und mehrdeutiger Autor. Sein Erzählstil ist düster, lakonisch, knapp, subtil und der Plot unglaublich spannend. Seinem Romandebüt liegt die Parallelwelt ländlich-vorstädtischer, zumeist lohnarbeitsferner Existenzen zugrunde. Busqued mischt der argentinische Erzähltradition dabei eine popkulturelle Ästhetik unter, eine, wie man sie etwa aus der zuweilen surrealen Bildsprache des Kinos der Coens oder Tarantinos kennt.
„Cetarti saß im Wohnzimmer, rauchte Gras und hatte den Discovery Channel angeschaltet, einen Dokumentarfilm über das nächtliche Fischen von Riesenkraken im Golf von Mexiko.“ In Busqueds Geschichte lebt ein junger Mann namens Cetarti am Rande der Provinzhauptstadt Córdoba lethargisch vor sich hin. Ein harmloser Junge, der Reader’s Digest-Magazine konsumiert und fasziniert ist von Wissenschafts- und Fantasy-Geschichten, zum Beispiel aus der Welt der Riesenkalmare. Busqued schildert die Leidenschaften dieses Cetarti völlig sachlich. Cetarti ist der Prototyp des in der ganzen westlichen Welt auffindbaren mehr oder weniger netten Mannes, der den Sprung von der nihilistischen Jugend in die zupackende Erwachsenenwelt nicht schafft.
In Cetartis – für Außenstehende – ereignisloses Leben, den Job hat der Antriebslose kürzlich verloren, platzt plötzlich der Anruf eines Unbekannten: „Ahh, sehr angenehm. Mein Name ist Duarte, ich rufe aus Lapachito an, aus der Provinz Chaco. Ich bin der Testamentsvollstrecker von Herrn Daniel Molina.“ Ein spezifisch argentinischer Kriminalfall kündigt sich an.
Cetarti wird sich auf den Weg nach Lapachito machen – einem höllisch stinkenden Provinzkaff, aus dem die Scheiße aus dem Boden quillt und ekelerregende Riesenkäfer brüten –, um sich um die Beerdigung seiner Mutter und seines Bruders zu kümmern, dirigiert von Duarte, einem Militär, dessen Operationsgebiet sich, das wird bald deutlich, vor allem außerhalb der Kasernen befindet. Cetarti kennt keinen Molina, aber es stellt sich heraus, dass dieser Mann der letzte Lebensgefährte seiner Mutter gewesen sein soll, zu der Cetarti – und sie wohl zu ihm – ein ähnlich inniges Verhältnis wie zu den Fischen im Aquarium pflegte. Molina war Unteroffizier der Luftwaffe a. D., ebenso wie Duarte, also ein Militär, eine von Busqued nicht näher ausgeführte Geschichte, aber im Kontext der jüngeren argentinischen Geschichte ein nicht ganz unwesentlicher Hinweis. Laut Duarte und Behörden soll Exunteroffizier Molina zuerst Cetartis Mutter und Bruder erschossen haben, danach sich selbst. Mit einem Repetiergewehr, „zuvor hatte er sein künstliches Gebiss herausgenommen“.
Duarte managt als Freund der Familie die behördlichen Formalitäten, selbstverständlich und harmlos. Denn: „Bei der Luftwaffe wählst du für den Fall deines Todes einen Kameraden als Testamentsvollstrecker, der soll dann der Familie bei dem ganzen Papierkram der Luftwaffe beistehen und klären, wer wann die Begräbniskosten zahlt, Lebensversicherungen und derlei“, so Duarte. Und Cetarti, der naive Spätpubertist, ist sichtlich erleichtert, selbst keine Entscheidungen treffen zu müssen.
„Beim Friedhofsdepot empfing sie ein städtischer Angestellter in Shorts und einem T-Shirt mit Schweißflecken und den Aufdruck Chaco For Ever, er trug Gummistiefeln und einen Mundschutz um den Hals.“ Busqued liebt seinen Chaco. Auch seinen Figuren Cetarti und Duarte verpasst er einen Mundschutz in fauliger Umgebung. Im Leichenkühlraum ist seit Stunden der Strom ausgefallen, „das Deo auf dem Mundschutz hielt mitnichten den Gestank des Todes ab.“
Mit grotesker Beiläufigkeit entwickeln sich die Dinge in diesem Roman. Die Gestalten hauen sich die Rübe mit Dope zu, nässen ins Bett oder verklumpen in Todeskämpfen mit ihrer tierischen Umgebung. Cetarti wandelt durch all das wie ein Unberührbarer durch einen Splatter, scheint kaum wahrzunehmen, was vor sich geht. Duarte, der Testamentsvollstrecker, digitalisiert in seinem Wohnzimmer-Büro seine Hardcore-Pornosammlung. Er tut dies nebenher, bastelt am Nachbau von Militärmaschinen, während er mit Cetarti spricht und diesem ein Schiebergeschäftchen vorschlägt. Duarte: „Also, ich habe mit den Leuten vom Sozialwerk gesprochen und da wird es keine Probleme geben. Allerdings muss man einen Teil den Pilotfischen geben, du weißt, wie das läuft.“ Der von Busqueds Roman geschilderte skrupellose und allgegenwärtige Filz der argentinischen Gesellschaft ist so legendär wie abgründig. Autor Busqued begnügt sich damit, ihn knappest in Szene zu setzen, all die trüben Verbindungen von Sozialwerken und Fuerzas Aéreas Argentinas. Cetarti weiß zwar nicht, wie das läuft mit den Pilotfischen, doch am Ende, ja am Ende – da überschlagen sich die Ereignisse. Ganz so naiv scheint Cetarti dann doch nicht zu sein. Typisch Argentinien, typisch Vorstadt, typisch Unterschicht? Busqueds Roman ist komplex, ein kultureller Hybrid, mithin die literarische Antithese – um den Pappkameraden hier ein letztes Mal zu zitieren – zu Sarrazin und anderen Vereinfachern unserer moralisch so integren Welt.
■ Carlos Busqued: „Unter dieser furchterregenden Sonne“. Aus dem argentinischen Spanisch von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2010, 190 Seiten, 17,90 Euro