: Die Dämme weichen auf
Der von den USA geführte „Krieg gegen den Terror“ hat die wichtigsten internationalen Menschenrechtsnormen in Frage gestellt, auch in Deutschland
VON RUPERT VON PLOTTNITZ
Um die unmittelbar nach dem 11. September 2001 so viel und leidenschaftlich beschworene westliche Wertegemeinschaft ist es mittlerweile ziemlich still geworden. Ob es sie jemals so uneingeschränkt gegeben hat, wie sie diesseits und jenseits des Atlantiks behauptet wurde, ist ohnedies eher zweifelhaft. Dagegen steht schon die Unbeirrbarkeit, mit der die Vereinigten Staaten seit je an ihrer Praxis der Todesstrafe festhalten. Wären die USA nicht nur ein Land mit europäischen Wurzeln, sondern ein europäisches Land selbst, käme ein Beitritt zur EU schon wegen der Todesstrafe nie und nimmer in Betracht.
In ihrer jüngeren Geschichte waren die USA auch schon vor der Präsidentschaft des George W. Bush und dem 11. 9. vor massiven Verletzungen der Menschenrechte nicht gefeit. Es gab den Vietnamkrieg und das geheime Phoenix-Projekt, ein Tötungsprogramm, dem in Südvietnam unzählige Menschen zum Opfer fielen, die im Verdacht standen, zu den Sympathisanten des Vietkong zu gehören. Es gab die geheimdienstliche Förderung und Unterstützung rechtsextremistischer Putschisten und Todesschwadronen in Lateinamerika und es gab schon früher die – in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre widerrufene und nach dem 11. 9. erneuerte – Ermächtigung der CIA durch den Präsidenten, „extralegal“ zu töten. All das wurde zuallererst in den USA selbst von wachen Medien zum Gegenstand heftiger öffentlicher Kritik und politischer Auseinandersetzungen gemacht.
Aber wo es vor dem 11. 9. im Beritt der USA zu solchen Verletzungen der Menschenrechte kam, wurde stets Wert auf strikte Konspiration und Geheimhaltung gelegt. Keinem Regierungsvertreter wäre es eingefallen, die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte – sei es im nationalen, sei es im internationalen Recht – öffentlich zu bestreiten oder zur Disposition zu stellen. Das hat sich mit dem 11. 9. gründlich geändert.
In ihrem „Krieg gegen den Terror“ maßt sich die Bush-Regierung offen und offensiv ein exekutives Recht auf rechtsfreie Räume wie Guantánamo oder Bagram und in diesen rechtsfreien Räumen ein Recht auf eine Behandlung von Gefangenen an, die in jeder Anti-Folter-Konvention als Folter qualifiziert und geächtet ist. Sie verteidigt dieses angemaßte Recht mit Zähnen und Klauen und wehrt sich energisch gegen alle Bemühungen, ihr dieses Recht mit den Mitteln der Gesetzgebung oder der Justiz streitig zu machen. Kein Zufall, dass der Mann, der sich im Justizministerium mit seinen Memoranden am massivsten daran beteiligt hat, die Marginalisierung der Menschenrechte im „Krieg gegen den Terror“ zugunsten angeblich präsidentialer Exekutivbefugnisse mit dem Schein der Verrechtlichung zu versehen, Alberto Gonzales, inzwischen Justizminister der USA ist, immerhin des Landes, das historisch zu den Wiegen der Demokratie und der Menschenrechte gehört.
Und die Bundesrepublik? Lässt sich – frei nach Goethe – sagen: Deutschland, du hast es besser? Noch lässt sich – trotz vieler wunder Punkte. Zwar hat Rot-Grün mit Otto Schily nach dem 11. 9. den Nachweis erbracht, dass auch die SPD mit Innenministern aufzuwarten weiß, die ihre politische Erfüllung lieber in der Rolle des Polizei- als des Verfassungsministers suchen und finden. Aber immerhin gibt es mittlerweile eine Bundeskanzlerin, die im Gespräch mit dem US-Präsidenten zu Guantánamo nicht unbekümmert schweigt, sondern offene und veröffentlichte Worte der Kritik findet.
Vor dem 11. 9. galten Rechtsprofessoren wie Günther Jakobs oder Winfried Brugger als juristische und kriminalpolitische Außenseiter. Beide hatten sich auch früher schon an der Apologie der Folter im Falle bestimmter Bedrohungsszenarien oder an einem so genannten Feindstrafrecht versucht, bei dem um die Grundrechte seiner Adressaten erklärtermaßen kein großes Federlesen mehr gemacht werden soll. Seit dem 11. 9. stoßen ihre Thesen auf ein ungesund gesteigertes öffentliches Interesse. In der jüngsten Auflage des Klassikers unter den Kommentaren zum Grundgesetz, dem Maunz-Dürig, wird die „Abwägungsfestigkeit“ und Unverfügbarkeit der Menschenwürde, Kern des im Rechtsstaat absolut geltenden Folterverbotes, neuerdings mit einem deutlichen Fragezeichen versehen.
Am Hamburger Oberlandesgericht gab es – in einem Verfahren gegen einen der Unterstützung der Attentäter des 11. 9. beschuldigten Angeklagten – nach der Kooperationsverweigerung US-amerikanischer Sicherheitsbehörden den gerichtlichen Versuch, Abstriche an den Beweisanforderungen zu akzeptieren, wie sie im Rechtsstaat für eine strafrechtliche Schuldfeststellung notwendig sind. Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung des Angeklagten mit dem begrüßenswerten Hinweis aufgehoben, dass auch die strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror nicht den Maximen eines „ungeregelten Krieges“ folgen dürfe. Das versteht sich nicht von selbst. Wann hätte der Bundesgerichtshof in den 70er-Jahren je eine Verurteilung in einem RAF-Prozess aufgehoben?
Zum Tätertypus des islamistischen Terroristen gehört in der Regel eine geradezu mustergültige Unauffälligkeit und Unbescholtenheit vor der Begehung der Anschläge. Die wenigsten sind bereits, wie es einstmals im Polizeijargon der alten Bundesrepublik hieß, „in staatsabträglicher Hinsicht in Erscheinung getreten“. Die Sicherheitspolitiker der Gegenwart reagieren auf dieses Phänomen ziemlich parteiübergreifend reflexhaft mit der Hoffnung, mit der Erfassung der Daten möglichst vieler im Zweifel auch unbescholtener Bürgerinnen und Bürger erfolgreich für Prävention sorgen zu können. Das jüngste Beispiel sind die beschlossene gemeinsame „Anti-Terror-Datei“ von Polizei und Geheimdiensten und die Ausdehnung der Videoüberwachung.
Dem subjektiven Sicherheitsgefühl mögen solche Pläne guttun. Warum sie geeignet sein sollen, gerade Anschläge der Art zu verhindern, wie sie jüngst in Koblenz und Dortmund glücklicherweise gescheitert sind, bleibt dennoch rätselhaft. In jedem Fall sind sie jeweils mit massiven Eingriffen in jenes Freiheitsrecht verbunden, das den sperrigen Namen „informationelle Selbstbestimmung“ trägt. Da die Angst vor dem Terror bei vielen derzeit verständlicherweise größer ist als die Sorge, als Folge exzessiver staatlicher Datensammlungsaktivitäten unverschuldet in polizeiliche, geheimdienstliche oder justizielle Mühlen zu geraten, stoßen sie mehrheitlich auf Akzeptanz und dürften deshalb zumindest politisch nicht zu verhindern sein.
Im Bereich der Erhebung und Speicherung der „Anti-Terror-Daten“ schreitet die Verschmelzung von Geheimdiensten und Polizei munter voran. Wo Geheimdienste zum verlängerten Arm der Polizei werden und umgekehrt, wird die Gefahr, dass rechtsstaatliche Sicherungen im Umgang mit den Rechten der Bürgerinnen und Bürgern durchbrennen, zwangsläufig größer.
Zu den wunden Punkten hierzulande gehört nach dem 11. 9. last, not least die Frage der Zusammenarbeit deutscher mit ausländischen Sicherheitsbehörden, die die Anwendung der Folter bei der Abwehr des islamistischen Terrors für ein probates und taugliches Mittel halten. Ob Schily oder Schäuble: Die Vernehmungsbesuche von Vertretern deutscher Sicherheitsbehörden in Einrichtungen auf Guantánamo oder in Syrien, in denen die Folter praktiziert wird, werden regierungsamtlich beharrlich verteidigt. Es gäbe eben Situationen, in denen die Sicherheit der Republik wichtiger sei als die Ächtung der Folter und die Verweigerung der Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden, denen das Folterverbot fremd ist.
Wenn sich die Schilys und die Schäubles da nicht täuschen. Ein Blick auf den Weg, den die Bush-Regierung in ihrem „Krieg gegen den Terror“ seit dem 11. 9. eingeschlagen hat, zeigt doch, wohin eine Anti-Terror-Politik führt, die in der Wahl ihrer Mittel nicht strikt auf unmissverständliche Unterscheidbarkeit von der Menschenverachtung Wert legt, wie sie für islamistische Halsabschneider und Terroristen typisch ist. Die im deutschen wie im internationalen Recht ausnahmslos normierte Ächtung der Folter ist ohne die Verweigerung der Zusammenarbeit mit ausländischen Dienststellen, zu deren Mitteln die Folter gehört, nicht zu haben. Wer diese Verweigerung im Umgang mit dem islamistischen Terror für verzichtbar hält, sorgt mittel- und langfristig nicht für mehr, sondern für weniger Sicherheit und Schutz vor dem Terror.
Alles in allem halten die Dämme noch, die den Rechtsstaat und die Menschenrechte im Verantwortungsbereich der Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik schützen. Aber sie stehen erheblich unter Druck.
Rupert von Plottnitz, 66, lebt als Rechtsanwalt in Frankfurt. Von 1995 bis 1999 war er grüner Justiz- und Europaminister in Hessen.