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Grand-Guignol mit Genitalverstümmelung

PREMIERE IN WIEN Frank Castorf bringt „Die Krönung Richards III.“ von Hans Henny Jahnn auf die Bühne. Gewohnt antiliberal und fortschrittsskeptisch, dafür aber prächtig ausstaffiert, mit Ritterburg und Fackelschein: noch einmal Potlatch machen am Burgtheater

VON UWE MATTHEISS

Dem schönen Paris ging es schon mal besser. Nach einer ansehnlichen Karriere dieses Namens in der griechischen Mythologie landet einer seiner Träger im königlich englischen Lotterbett und danach im Tower, wo man ihm – schnapp, schnapp – die Geschlechtsorgane entfernt. Hans Henny Jahnn (1894–1959), in den Stadtgrenzen Hamburgs ein Genie, hat 1921 ein Stück weit Shakespeares „Richard III.“ nacherzählt. Herausgekommen ist eine 150 Seiten starke, expressive Klage über die Unerlöstheit der Welt, die Frank Castorf nun am Wiener Burgtheater dem Vergessen zu entreißen sucht.

Bei Shakespeare führt das ganze Hauen und Stechen noch zu etwas Besserem. Die Blutspur geht von rivalisierenden Räuberbanden zum befriedeten Staat. Jahnn sind die Glaubensformeln von Fortschritt und Humanität verloren gegangen. Es schreit nur noch die leidende Kreatur, und selbst die Täter ereilen ihre Triebkräfte wie schlechte Träume in dunkler Nacht. Sie beklagen ihre Geworfenheit in die Welt und begehren, nur stummes Werkzeug darin zu sein. Ein deutsches Ding also.

Zweifel am Fortschritt durch Fortschritt macht Jahnn zum Kronzeugen gegen den großen Konsens der westlichen Demokratien, am Ende der Geschichte und im Verblassen ihrer Widersprüche angelangt zu sein. Für die gewohnt antiliberale Provokation greift Frank Castorf diesmal nicht so tief in den Giftschrank, dafür umso mehr in den Farbtopf. Bei Bert Neumann hat er sich für die Burg eine richtige Ritterburg vor glutrotem Bühnenhintergrund bestellt, die sich im Fackelschein unablässig dreht. Zu vielen Worten und einer virtuosen Losgelassenheit im Spiel gesellt sich eine ungewohnte, fast katholische Bilderpracht in Masken und Gewändern. Die Mär vom sagenhaften Reichtum der Burg ist dieser Tage jäh zerstoben. Dem Direktor Matthias Hartmann wurde wegen eines millionenschweren Defizits fristlos gekündigt. Castorfs Ausstattungs- und Ressourcenmobilisierungstheater, das vom Maskenspiel bis zur Tragödienparodie alle Genres durchgeht, liest sich wie ein unverhoffter Kommentar dazu. Noch einmal aufdrehen, Potlatch machen im Hoftheater, bevor die Ödnis einer sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln einsetzt, das ist die gar nicht so sublime Botschaft dahinter. Mit Artaud wünscht er der Gesellschaft das Theater als klärend-erschütternde Pest an den Hals, doch einige der sechseinviertel Premierenstunden später wird klar, dass Castorf in Wien der Sinn mehr nach Umarmen und Umgarnen steht. Die Gabe ohne Gegengabe bleibt der letztmöglich subversiver Akt in der Markt- und Mangelwirtschaft.

Aber was findet tatsächlich statt zwischen 18 Uhr und der Erschöpfung kurz nach Mitternacht? Wie fast alles im christlichen Abendland zerfällt auch diese Bühnenfeier in drei Teile: Bis zur ersten Pause Grand-Guignol mit Genitalverstümmlung, ein Hochamt mit Orgelmusik vom Barock bis zu den Doors, dazwischen Stoßgebete der Kreaturen und ein Kreuz ohne Auferstehung, im Schlussteil Verlangsamung, Anhalten der Theatergestirne, Suspendierung der Stechuhrenzeit, Endorphinausschüttung in der verbliebenen Gemeinde, bis Erzpriester Martin Wuttke, der nebenbei den Richard gab, mit feierlich erhobenen Händen den Ermatteten das Zeichen zum Applaus gibt.

Studienräte, die nach der Handlung fragen, haben Jahnn nicht gelesen und werden auch sonst unglücklich. Es ist aber hilfreich, das wichtigste „Richard III.“-Personal grob durchzählen zu können. Über Shakespeare hinaus rückt eine Frauenfigur ins Zentrum, die es mit König Richard an Ge- und Verworfenheit aufnehmen kann. Elizabeth Woodville, die Königswitwe mit sexueller Präferenz für Pubertierende, macht Knaben nach Verzehr unbrauchbar und wacht doch ängstlich wie vergeblich über ihre Prinzensöhne, die Richards königlicher Legitimation im Weg stehen. Sophie Rois gibt einmal mehr großes Kino, Stummfilmpathos plus hohe Rede, jenen reflektierten Manierismus, der dem Theater alle Manierismen ein für alle mal austreibt. Richard, Meuchelmörder und Gewissenswurm, durchläuft ein Purgatorium aus Bekotung und Liebkosung in seltsamen Gewändern.

Untergebene huschen mit Wrestlermasken durch Dunkel und Fackelschein. Gibt es irgendwo Licht? Der schwarze Teil des Ensembles verkündet das Ende des „Theaters der weißen Revolution“. Ein paar Zeilen aus Heiner Müllers „Auftrag“ weiter ersehnen die alten Herren Lust und Klassenverrat an karibischen Gestaden. Die europäische Krankheit dort heilen, aber wie?

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