Roman eines Lebens

KINO Der Zauber der Geschichte mit dem Nachklingen alter Schicksalsstunden – Gerd Conradts autobiografischer Film „Video Vertov“

VON PETER NAU

Jedes Dasein, wie immer es auch verläuft, ist ein Roman, bei dessen Niederschrift uns vom Schicksal die Hand geführt wird. Wenn dieses uns seine Fragen stellt und wenn wir diese Fragen nach besten Kräften und mit gutem Gewissen zu beantworten suchen, dann hat sich unsere persönliche Geschichte in einer Weise geformt, von der sich schlecht eine Episode hinwegdenken lässt. Bei Gerd Conradt ist das der Fall. Den Schnitt zwischen den Lebensabschnitten kann eine Reise schaffen wie jene Goethes nach Italien, auch ein Unglück oder ein moralischer Zusammenbruch. In „Video Vertov“ heißen die Etappen: Rom, Westberlin, Puna in Indien und das Berlin nach der Wende.

Die Leuchtfeuer des Jahres 1968, im Nebel der Jahrzehnte verblasst, lässt Gerd Conradt – in einer Epoche, deren emanzipatorische Projekte bescheidener geworden sind – noch einmal aufscheinen. Dabei hat er einen Akzent insofern gesetzt, als die historischen Filmdokumente verwoben sind mit dem gestaltenden Einfluss der Zeit auf seine eigene, persönliche Entwicklung. Westberlin, die zornigen jungen Leute des ersten Jahrgangs an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, die Studentenbewegung haben ihm viel gegeben. Ihrer hat er mit seinem Film gedacht.

Wie immer, liegt der Zauber der Geschichte dabei im Detail. Ein Gespräch, das Gerd Conradt damals mit seinem Kommilitonen Günther Peter Straschek über den einzuschlagenden Weg für Filmschaffende führte, bezeugt noch einmal die hohe Konstellation, deren eine Streit- und Debattenkultur bedarf. Intensives, gegen Papas Kino gerichtetes Nachdenken, verbunden mit Lust, machen sich im Auftritt der beiden geltend. Inzwischen laufen andere Uhren ab. Der Staat wird schwächer, die Gesellschaft übermächtig – der Große Bruder tritt die Erbschaft des Vaters an. Wenn wir damals noch Hoffnung hegten, so mussten wir inzwischen erfahren, dass nur die Schatten geblieben sind.

Aber das Nachklingen alter Schicksalsstunden, das wir aus diesem erzählenden Film, seinem ausatmenden Unterstrom, vernehmen, ist nicht zu verwechseln mit dem Durchrechnen politischer Fehlschläge. Vielmehr befreit er den Blick vom historischen Vordergrund und wendet ihn dem Gang der Weltenuhr zu. Bei einer Atemübung, der Gerd Conradt sich unterzieht, beginnt die Zeit zu entrücken, bis sie fast den Stillstand erreicht. Gedanken werden nicht mehr gefasst oder gar erzwungen – sie lassen sich nieder, fliegen wie auf eine einsame Insel an. Vollkommene Ruhe soll erreicht werden.

Der musische Mensch, unter einer schmerzlichen Sehnsucht leidend, verlangt nach Befriedigung durch Liebe und große Ideen, durch Abenteuer und geistige Führer. Wie von selbst stellt sich in „Video Vertov“ Gerd Conradts Indienaufenthalt, mit dem Ashram in Puna, ein. Auch hier ist der Weg wichtiger als das Ziel, wobei auch der Weg nur die Zündschnur ist, an die der Funke eines unmessbaren Augenblicks gelegt wird. Einen solchen Augenblick bildet das Statement des Bhagwans, das vom Vorrang der Bilder über die Worte handelt, wobei seine eigenen Worte selbst zum Bild werden und man ihm einen Blick hinter den Vorhang zutraut.

Einen geistig nah verwandten Vorläufer erblickt Conradt in Dziga Vertov, dessen „Mann mit der Kamera“ im Film des Nachfahren Pate steht. Vertov nannte sich einen Jäger. Einen Jäger nach der Film-Wahrheit. Er wollte ein spontaner Beobachter sein, ein Kundschafter. Aber während der Stalinisierung der Sowjetunion passte er den Funktionären nicht mehr ins Konzept. Als er zielte und bereit war abzudrücken, sagte man ihm: „Aufhören!“ Und man forderte von ihm vor jedem Schuss, dass er eine offizielle Erlaubnis vorzeigte. Währenddessen flogen die Vögel weg, flohen die Tiere. Die Erlaubnis hatte er nicht bekommen.

Vertovs Ideen kreisten immer wieder darum, durch die Montage des von ihm vorgefundenen Materials einen Film herzustellen, der seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum hervorbringt. Bei Gerd Conradt geschieht dies durch das Medium der Erinnerung. Diese Erinnerung reicht sehr tief. Die an Rom, an Puna stieg nicht erst jetzt, im Alter, in ihm auf, sondern schon beim ersten Mal, als er dort war. „Der Künstler erinnert sich im Tiefsten einer Vollkommenheit, die er nie erreicht“ (Rilke). „Video Vertov“ hat mit Suchen und Finden, mit strebender Wiederholung zu tun. In seinem Pulsieren wird das Pendel dieser Wiederholung lebendig.

Gerd Conradt erzählt vom Leben als einem Traum, vom Lebenstraum. Der Einzelne verwirklicht ihn in Werken und Taten, in Liebe und Kampf. Die Verwirklichung gelingt mehr oder minder, doch nie vollständig.

■ Gerd Conradt: „Video Vertov“. Am Samstag um 19 Uhr im Lichtblick-Kino, am Sonntag um 11 Uhr im Bundesplatz-Kino, jeweils in Anwesenheit des Regisseurs