piwik no script img

Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen Aus einer Reihe Unverschämtheiten erregt eine spezielle den Zorn des Stilgotts vom Golden Gate

Niemand weiß genau, was damals nach der Record-Release-Party zwischen vier und sieben geschah, nachdem die mit schwarzem Schminkstift kriegsbemalte Justine Electra mit ihrem zwischen Schlaf und Suff schwankenden Freund das „Kumpelnest“ verließ. Ihre eigene Version, der zufolge sich die Turbulenzen auf dem Heimweg ereigneten, widersprach den Berichten seriöser Zeugen, die Justine noch um halb sechs, verziert mit Spuren eines Kampfes und dem einen Ende eines zerrissenen Handschellenpaars, im White Trash gesehen haben wollen. Wohlbehalten jedenfalls und als könnte sie kein Wasser trüben, keinen Taxifahrer zusammenschlagen und keinen Beamten beleidigen, stand sie jetzt auf der Bühne des Golden Gate.

„Hans … Zeichen!“, sagte sie Richtung Mischpult ins Mikro, hob extra plump den rechten Arm und lächelte ironisch, quasi nach unten. Sollte heißen: „Ich habe mit dem Tonmann zur besseren Verständigung über technische Banalitäten ein Handzeichen ausgemacht und komme mir jetzt, wo ich es gebe, etwas dumm vor, find’s aber auch lustig.“ Zu Electras Rechten befand sich jemand Neues, ein besonders hübscher, mit feinen müden Zügen versehener Bubikopf von Gitarristin. Die hatte die Songwriterin wahrscheinlich angeschafft, um nicht mehr einsames Energiezentrum zu sein, gleichzeitig aber den Gesamtcharme des Projekts ins Unverschämte zu steigern.

Ich liebe übrigens das Golden Gate. Es ist, glaube ich, so ziemlich die letzte nachwendetypische Bahnbogenbruchbude, die die Gentrifizierung von Mitte übrig gelassen hat. Ich selbst gab hier im Rahmen der seinerzeit von Christiane Rösinger und Almut Klotz betriebenen nomadisierenden „Flittchenbar“ mein erstes Berlinkonzert überhaupt. Es war sehr schwer gewesen, den Besenstiel so hinzustellen, dass er nicht umfiel und ich beim Klavierspielen ohne Verrenkungen drankommen konnte. Seitdem schreibe ich zu „Mikro“ immer dazu: „und Mikroständer“.

„Pling ........... Pling ....................... Pling, Pling“, ließ Electra vereinzelte Glockentöne aus einem Casio-Keyboard in ihr Lied „Defiant and Proud“ fallen, und, passend zur lapidaren Gemächlichkeit dieser Einsätze, humpelte die Rösinger, an die ich doch grad noch so gedacht hatte, im Fleische herein. Humpelte? Allerdings, denn kaum hatte sich mein Zeh erholt, hatte sie sich ihren wieder mal gebrochen. „Der Staffellauf der Ungeschickten“ sang ich ihr (zur Melodie von Blumfelds „Diktatur der Angepassten“) ins Ohr, um ihr so etwas wie eine kleine Galgenfreude zu verschaffen.

Bevor die sich aber einstellen konnte, trat schon jemand aus dem Publikum volle Wucht auf den schlimmen Fuß. Um mir das Elend in ihrem schmerzverzerrten Gesicht entgehen zu lassen, schaute ich wieder Richtung Bühne, aber auch da spielte sich Schreckliches ab. Zwei Liebende arbeiteten hart daran, eine uralte anthropologische These praktisch zu widerlegen: nämlich die, dass öffentlich ausgeübte Sexualität deswegen anstößig wirkt, weil sie in den Umstehenden Wünsche nach – meist ad hoc schlecht zu bewerkstelligender – Imitation und somit Neidgefühle auslöst.

Von Neid konnte aber bei aller Anstößigkeit, mit der unsere beiden Kollegen sich auf dem Bühnenrand paarten, wirklich keine Rede sein. Wie in einem albtraumhaften Loop beschrieben ihre Zungen immer wieder brutal den gleichen Kreis, ohne je Tempo oder Richtung zu ändern. Der Boy streichelte seine Bekannte, als wäre er eine Puppe, deren Arm ein unsichtbarer Dritter bedient. Dem Girl war das aber, ihren Fickbewegungen nach zu urteilen, egal.

Über uns donnerte eine S-Bahn wie der Zorn eines stilvollen Gottes. JENS FRIEBE