: Verderbte Mordbuben
Heruntergekommene Berufe. Heute: Der Murmeltierjäger (Massakerexperte)
„Es gibt Situationen, da kann man Murmeltiere hassen“, schrieb Max Frisch in sein Tagebuch. Besonders verhasst war ihm ein Nager namens Fritz. Das handzahme Exemplar wurde Frisch und der Dichterin Ingeborg Bachmann, mit welcher ihn bekanntlich eine hochkomplexe Liaison verband, auf der Bernina-Hütte vorgestellt. „Beim Abendessen, Spaghetti, Campari, Veltliner, legt es sich, nah bei Ingeborg, auf die Ofenbank“, notierte er angewidert. Später in der Schlafkammer, Frisch fieberte dem Beischlaf entgegen, sei das Tierchen auch noch zwischen die Kissen gekrochen. „Es stank wie Hund“, berichtet der Dichter. Die Bachmann habe sich die Entfernung des pelzigen Gesellen jedoch kategorisch verbeten. Schließlich sei es draußen kalt. Dann habe sich die Lyrikerin umgedreht und sofort zu schnarchen begonnen. Frisch lag wach mit einer Erektion wie ein Baumstamm und fühlte nichts als „die trockenen Pfoten des Tiers“ an seinem Schenkel. Nach zwei weiteren Nächten mit Fritz verpasste er dem Rivalen einen Tritt und bilanzierte zufrieden. „Es flieht fiepsend, in Panik, Richtung Tal.“
Dabei hat Fritz noch Glück gehabt. Ohne seine Ingeborg hätte der Nobelpreisträger das Tier womöglich gleich zum Frühstück verspeist. Im Jahr 1943, erinnert sich Frisch, sei der Fourier Brunner mit dem MG in die Berge gegangen. „Wir hörten es knallen. Tags darauf haben wir Soldaten Murmeltiere gegessen. Ihr Fleisch war dumpf, schwammig. Ich mochte es nicht, aber ich aß es, weil es gegen Hitler stärkte.“ So ist der neutrale Schweizer. Wenn er sich an der unschuldigen Kreatur vergreift, muss der Führer herhalten.
Aber so billig kommen die Älpler heuer nicht davon. Denn 60 Jahre nach Hitlers Tod geht das Schlachten munter weiter. Betrieben von sogenannten Jägersleuten, von verderbten Strolchen, deren sittliche Verkommenheit das Mont-Blanc-Massiv um Längen überragt. Wie heruntergekommen muss eine Berufsgruppe sein, die alljährlich im Herbst aus schnöder Geldgier und perversem Vergnügen zum Massaker am possierlichen Murmele aufruft? In Mayrhofen im Zillertal zum Beispiel ist man dann mit „150 Euro, gutem Schuhwerk und führiger Waffe (wir empfehlen: 222 Rem., 5,6 x 50 oder Ähnliches)“ dabei. „Pirschführung bis zum Erfolg“, trommeln die Murmeltiermörder, „Versorgung Ihrer Trophäe, bei Bedarf: Tierpräparator in der Nähe! Probeschuss: Ausnahmslos verpflichtend! Fehlschuss: Kostenfrei!“
Was, frage ich, hat das Murmele verbrochen? Schläft es winters nicht den Schlaf der Gerechten und sitzt sommers friedlich auf einem Stein, bewacht sein Geröll und zieht, wenn der Rest der Welt zudringlich wird, bänglich pfeifend den Kopf ein. Ernährt es sich nicht gottgefällig von den Gräsern der Matten und Almen, von Schafbarbe, Bärenklau, Grindwurzel, Klee und Wegerich, ohne die Mitgeschöpfe zu belästigen? Und war es dem Menschen, so er es brauchte, nicht stets ein guter Gefährte und treuer Kamerad? Ja, das war es und bietet dem sagenhaften Volk der Fanes bis heute Unterschlupf in seiner Höhlen.
Das Murmeltier reüssierte im Theater, wo Schillers Ferdinand seinen Hofmarschall „wie irgendein seltenes Murmeltier“ mitführt. Es reüssierte in Hollywood, wo ein Murmeltier namens „Punxsutawney Phil“ Bill Murray ewig grüßt. Und hört man den russischen Landmann nicht vom Don bis zum Jenissei ein Lied singen, dessen Refrain lautet: „I moj vsegda, i moj vezde, i moj surok so mnoju“. Was auf Deutsch ungefähr so viel bedeutet wie: „Und immer und überall (sind) wir – mein Murmeltier und ich“?
Genauso ist es. Aber das war den beiden Mordbuben egal, die mir vor Wochenfrist auf einer Lichtung unterhalb des „Schneebigen Nock“ entgegenstierten. Die vierschrötigen, lederbehosten Trolle standen in einer Dunstglocke aus Obstbrand, Schweiß und Kadaverodium. Vor ihrer roh gezimmerten Baude schwangen auf einer Wäscheleine sieben Murmeltierpelze im Wind. Der eine zerlegte mit der blutigen Axt zwei weitere Tiere, der andere nuckelte an der Schnapsflasche, rülpste und lallte: „Grüß Gott“. Ob dieser Lästerei wandte ich mich mit Schaudern ab und ging meiner Wege.
Nachts träumte ich schlecht. Ich sah Ingeborg Bachmann kopulierend mit dem König der Murmeltiere, dann sah ich, wie das kingkonghohe Vieh Max Frisch und einen der Murmeleschänder packte, sah, wie es durch eine schrundige Eiswand himmelwärts stieg und seine Beute brüllend in die Tiefe warf.
Wer kann mir mein Entsetzen, aber auch die leise Genugtuung verdenken, als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und folgende Meldung las: „Abgestürzt: Während der Murmeltierjagd auf der Ostseite des Schneebigen Nock (Bezirk Pustertal) war ein 40-jähriger Angestellter ausgerutscht und über eine 15 Meter hohe Felswand abgestürzt. Der Jäger wurde bei dem Sturz schwer verletzt. Er musste vom Flugretter des Rettungshubschraubers RK 1 mittels Seil geborgen werden.“ Das war sie endlich, die Rache der Murmeltiere. MICHAEL QUASTHOFF