Dunkelmänner im Kühlraum

Mehr Kontrollen und härtere Strafen allein schützen nicht vor der Gammelfleisch-Mafia. Vielmehr müssen sich Qualität und Transparenz der Lebensmittelüberwachung ändern

Eine bundesweite „Eingreiftruppe Lebensmittel“, die sich Großbetriebe vornimmt, wäre nötigDie Fleischbranche hat alle ethischen Maßstäbe verloren: Das System stinkt, Seehofer schützt es

Der stinkende Fleischberg wird zum Dauerproblem. Wir erleben inzwischen die fünfte Neuauflage des Gammelfleischskandals, und die reflexartigen Reaktionen sind doch dieselben wie beim ersten Mal: Schärfere Gesetze, drakonische Strafen, mehr Kontrollen und öffentliche Brandmarkung werden gefordert. Und wir dürfen jetzt schon wetten, dass dank der neuen Sensibilisierung mit naturgesetzlicher Regelmäßigkeit weitere Funde entdeckt werden. Man lupft den Stein und sieht das Gewimmel. Der Verbraucher steht angewidert davor und will mit harter Faust aufräumen. Ab in den Knast bei Wasser, Brot und Gammelfleisch, wüten hilflose Leserbriefschreiber. Und natürlich: in jeder Imbissbude ein Polizist oder eine Videoüberwachung.

Fangen wir bei den Kontrollen an. Die Forderung nach mehr Kontrollgängen ist nahe liegend, sie bringt aber nichts. In Berlin sind im vergangenen Jahr 75 Prozent aller Betriebe kontrolliert worden. Und auch im Epizentrum Bayern sind die Lebensmittelkontrolleure nicht nur fleißig, sondern auch erfolgreich: Von den 4.000 in Bayern gezogenen Proben wurden 30 Prozent im vergangenen Jahr beanstandet. 15 Prozent aller Proben offenbarten nicht nur kleine Mängel oder überzogene Verfallsdaten, sondern gesundheitsgefährdende, bakteriell verseuchte Gammelware.

Und noch eine alarmierende Zahl: In jeder zehnten Hackfleischpackung aus Supermärkten werden bei Kontrollen zu hohe Salmonellenverunreinigungen entdeckt. All diese Befunde behandeln die Behörden allerdings vertraulich und nicht öffentlich. Kleiner Dienstweg und stille Rückrufaktionen statt Transparenz. Die schützende Anonymität breitet den Mantel der Barmherzigkeit über die Sünder. Die zahlen brav ihr Bußgeld und gehen ungestört ihren Geschäften nach. Nicht die Zahl der Kontrollen, sondern die Konsequenzen daraus müssen sich ändern, die Öffentlichkeit hat ein Recht, Ergebnisse der Lebensmittelüberwachung zu erfahren. Sie muss raus aus dem Halbdunkel. Jenseits mittelalterlicher Prangermethoden bietet das dänische „Smiley“- System eine elegante Lösung.

Bei den Kontrollen selbst muss sich die Qualität verbessern. Die geregelte Schalterstunde mit festen Dienstzeiten kann nicht die Antwort auf einen globalisierten Fleischmarkt mit wirtschaftskriminellen, teilweise mafiösen Strukturen sein. Der Kontrolleur hat erstens unangemeldet und zweitens auch mal im nebligen Morgengrauen oder sonntags nach dem „Tatort“ auszurücken und nicht nur nach der morgendlichen Dienstbesprechung montags um elf. Dass bei einer privatisierten Lebensmittelüberwachung, wie in Baden-Württemberg, auch mal die Ehefrau des Schlachthofbesitzers den Schlachthof kontrolliert, gehört zu den besonderen Highlights dieser Branche.

Damit sind wir bei der immer wieder kritisierten Nähe zwischen Kontrolleur und Fleischbetrieb. Kontrolleure auf Kreisebene kennen die Fleischhändler und ihre Betriebe durch viele Besuche recht gut. Zu gut. Das erzeugt Beißhemmungen und zugedrückte Augen, erst recht, wenn der Betrieb auch noch Steuereinnahmen garantiert, ein wichtiger Arbeitgeber in der Region ist und die Führungsspitze im selben Gesangsverein singt wie der Herr Landrat. Ohne eine Veränderung der Zuständigkeiten und Strukturen der Lebensmittelüberwachung wird man die Zutraulichkeiten zwischen Kontrolleur und Fleischbetrieb nicht abstellen.

Eine bundesweit operierende Eingreiftruppe Lebensmittel, die sich auf Großbetriebe konzentriert, wäre als Ergänzung durchaus kein übertriebener Aktionismus. Es geht hier nicht um Ekel und ranzige Duftmarken, sondern um handfeste, manchmal lebensbedrohliche bakterielle Infektionen. Ein rotierendes System zwischen den Kontrolleuren benachbarter Kreisverwaltungen wird sicher nicht ausreichen. Dass sich die Kontrolleure nicht beim Metzger um die Ecke austoben, sondern vor allem die Großen der Branche regelmäßig ins Visier nehmen, muss klar sein. Im Übrigen: Die Kontrolleure kennen die Problembetriebe sehr genau.

Welche Ausmaße die mit Lastwagen und Gabelstaplern befahrbaren riesigen Kühlhäuser angenommen haben, vermag sich kaum jemand vorzustellen. Da werden ganze Schiffsladungen Fleisch zwischengelagert. Und wie in jedem gut gefüllten Familienkühlschrank wird auch im großen Kühlhaus immer wieder eine Ecke vergessen. Dass diese nach ihrer Entdeckung dann nicht entsorgt, sondern umetikettiert oder untergemixt wird, gehört zu den Machenschaften einer Branche, in der die Margen immer enger werden und es sich offenbar viele Betriebe nicht mehr leisten können, einige Tonnen grün schimmerndes Fleisch einfach wegzuschmeißen. Statt in der Mülltonne landen sie dann irgendwann in der „Tagesschau“. Die ethischen Maßstäbe dieser Zunft sind zwischen Schlachthoffließband, Entbeinungsmaschine und computerverwalteten Entenbrustpaletten ohnehin längst verloren gegangen. Die Branche hat es geschafft, Fleisch zu einem Ramschprodukt verkommen zu lassen, sie handelt mit Billigfleisch wie mit Ziegelsteinen, und auch ihr Geschäftsgebaren erinnert an die kriminellen Auswüchse der Baubranche.

Das Gesamtsystem – aus seelenloser Massentierhaltung, akkordgetriebenen Schlachthöfen mit ukrainischen Billigarbeitern und unanständigen Dumpingpreisen im Handel und Verkauf – verändern zu wollen, haben die meisten Kritiker aufgegeben. Gefangen in der Ohnmachtsfalle, geht es in der aktuellen Debatte eher darum, die schlimmsten Auswüchse dieses Systems zu verhindern. Zum Beispiel durch härtere Strafen und schärfere Gesetze. Natürlich kann man das Strafmaß anheben. Doch schon jetzt darf ein Richter fünf Jahre Knast verordnen oder 20.000 Euro Bußgeld, dazu noch so genannte Abschöpfungsstrafen, die mögliche Gewinne durch Gammelfleisch wieder einkassieren. Nur: Solche Strafen werden nicht verhängt. Das übliche Strafmaß sind 200 oder 500 Euro. Auch hier fehlt der öffentliche Druck, weil die gesamte Lebensmittelaufsicht im Verborgenen agiert und die meisten Fälle gar nicht bekannt werden. Höchststrafe für jeden Fleischmafioso ist zudem nicht die Geldbuße, sondern die Veröffentlichung seines Namens.

Horst Seehofer hat die Missstände mit seinem Verbraucherinformationsgesetz zementiert. Dieses Gesetz schützt Firmen und Fleischhändler vor den Zudringlichkeiten des Verbrauchers. Und niemand sollte glauben, dass der aktuelle Skandal wenigstens dazu taugt, dieses Placebo zu verhindern. Erst verabschieden, dann kann man ja nachbessern, heißt die gegenwärtige politische Marschroute. Der Kunde kauft ein neues Auto, obwohl er vorher schon weiß, dass der Motor stottert. Dass ausgerechnet Seehofer, der für dieses Gesetz verantwortlich zeichnet, sich auch noch an die Spitze der Gammelfleisch-Kritiker stellt und sich als Krisenmanager profiliert, darf man ihm nicht durchgehen lassen.

MANFRED KRIENER