: Die Gespenster der Geschichte
KRIMKRISE Mit Moralpolitik kommt der Westen im Fall Putin nicht weiter. Er muss auch die Ängste des Kremls verstehen
Es gibt in der Krimkrise eine ganz große Koalition von der CSU bis zu den Grünen. Nur die Linkspartei tanzt mal wieder aus der Reihe. Und es mag naheliegen, den oft moralisch hochfahrenden, selbstgerechten Pazifismus von Gysi & Co rhetorisch zu verdammen. Aber das führt auf eine falsche Spur. Die Frontverläufe sind komplexer, kurviger, facettenreicher. Das Links-rechts-Raster führt eher zu einer optischen Täuschung.
Henry Kissinger, Erhard Eppler, Helmut Kohl und Klaus von Dohnanyi sind keine verstockten linke Pazifisten. Alle vier warnen, jeweils anders nuanciert, vor der nassforschen Art, mit der der Westen Russland zum Bösewicht erklärt. Dass nun schnell und tatkräftig mit Sanktionen gedroht wird, sehen sie skeptisch. Die Trennlinie verläuft weniger zwischen den politischen Lagern als zwischen den politischen Generationen.
Die Kissinger-&-Eppler-Generation ist geistig vom Kalten Krieg geprägt. Es ist kein Zufall, dass sie alarmiert reagiert, wenn mit Gesten moralischer Überlegenheit mal wieder in Moskau das Weltübel lokalisiert wird. Und das ist keine Fantasie. Es war Hillary Clinton und keine Tea-Party-Provinzpolitikerin, die Putin in einem Atemzug mit Hitler nannte. Kissinger hat schlicht und einfach recht, wenn er feststellt: „Die Dämonisierung Putins ist keine Strategie, sondern das Zeichen dafür, dass man keine hat.“
Einwände wie die von Kissinger und Eppler werden derzeit von den politischen Akteuren höflich zur Kenntnis, aber nicht ernst genommen. Im Grunde hält man sie wohl für das Gerede von alten Männern, die von den Gespenstern des letzten Jahrhunderts umgetrieben werden. Das verrät wenig Weitsicht. Gerade Konservative haben öfter ein feineres, ausgeprägteres Sensorium für historische Tiefenablagerungen, für verborgene, aber letztlich wirkungsmächtige Traditionen. Das bedeutet zum Beispiel, zu verstehen, wie sehr Russland mit der Ukraine seit Jahrhunderten verwoben ist. Den Blick nur auf die Unterdrückung der Ukraine im Sowjetimperium zu richten ist zu engstirnig.
Und wir? Die Bundesdeutschen bilden sich nicht zu Unrecht viel darauf ein, die Geschichte des Nationalsozialismus (wenn auch spät) bearbeitet zu haben. Von Geschichtsbewusstsein ist in der Krimkrise aber erstaunlich wenig zu bemerken. Ja, die durch den Regimewechsel in der Ukraine ausgelösten Einkreisungsängste in Moskau sind übertrieben. Und natürlich stützt das gezielt geschürte Gefühl, angegriffen worden zu sein und mal wieder in der Wagenburg zu sitzen, Putins Herrschaft. Aber Politiker in Berlin müssen anders über russische Einkreisungsphobien reden, als es die politische Klasse in Paris oder London tun darf. Denn es waren deutsche Soldaten, die vor 70 Jahren Russland mit beispielloser Brutalität verwüsteten und die Einkreisungsängste in Moskau katalysierten. Berlin hat die historische Verpflichtung, verständiger auf russische Befindlichkeiten zu schauen. Diese Pflicht ist nicht erledigt, weil die Sowjetunion 1990 als Weltmacht abtrat und sich in unverhofft ziviler Art und Weise selbst abwickelte.
Und nun? Merkel setzt wie die EU auf Sanktionen gegen Russland. Das ist hochriskant: Denn alles spricht dafür, dass Putin hart bleibt. Dann kann eine heillose Eskalation von Sanktion und Gegensanktion in Gang kommen.
Es ist aber trotzdem eine Chance, dass in der Krimkrise Deutschland – und nicht die USA – den Westen führt. Merkel hat im Bundestag immerhin klug auf verbale Zuspitzungen und Abfälligkeitsäußerungen über Putin verzichtet. Und: Deutschland ist wirtschaftlich eng mit Russland verbunden. Es ist kein Zufall, dass der BDI und Gregor Gysi derzeit mitunter zum Verwechseln ähnlich klingen.
Um eine verhärtete Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu verhindern, ist kühle Realpolitik nötig, keine Moralpolitik. Auch da hat Kissinger recht. Man muss die Gespenster der Geschichte kennen, begreifen und in Rechnung stellen. Nur so verhindert man ihre Wiederkehr.
STEFAN REINECKE