piwik no script img

Archiv-Artikel

BRD-PARANOIA, NEWSJUNKIETUM UND WIE ES KALT IM KINO WIRD Folter mit getexteten Reden

VON DETLEF KUHLBRODT

Zunächst, am Freitagabend, gucke ich einen englischen Stream des Bundesligaspiels zwischen Schalke und Augsburg. Nur manchmal bleibt das Bild stehen. Komisch, wie gut die Fußballstreams mittlerweile sind. Vor zehn Jahren erinnerten sie noch an Experimentalfilme, mittlerweile sind sie recht stabil und scheinen kaum noch verfolgt zu werden. Die Fußballgucker freuen sich, den Werbekunden ist es egal, ob ihre Werbung legal oder illegal gezeigt wird, und die Rechteinhaber gehen vermutlich davon aus, dass die angefixten armen Zuschauer später, wenn sie Geld haben, für Fußball bezahlen werden.

Nach dem Fußballgucken gehe ich weg. In der Galerie Laura Mars wird eine Ausstellung mit Bildern von Andreas Seltzer eröffnet. Die Fotoausstellung heißt „Sendermann-Serie“. Der „Sendermann“ war eine wichtige Gestalt des alten Westberlin. Zwischen 1972 und 1978 überzog der kräftige Mann die Westberliner Innenstadt mit klassisch paranoiden Schriften. An Wochenenden zog er mit Transparenten über den Ku’damm und rief dabei: „„Bürger! Entwickelt Initiative! In jedem 3. Haus CIA und Abschirmdienst mit Sendern! Wehrt euch! Der Verfassungsschutz foltert Bürger mit Sendern!“ Er war davon überzeugt, dass in Haushaltsgeräten, Kleidungsstücken und Einrichtungsgegenständen Aufzeichnungsgeräte verborgen sind, die alles protokollieren. Auf dem Weg dachte ich an eine Sendermannparole, die der taz-Kollege Helmut Höge gern zitiert – „Der Senat foltert mit getexteten Reden“.

Galerie ist weg

Als ich durch die Sorauer Straße fahre, ist die Galerie leider weg, und der Abend gerät ins Wanken. Ich fahre in den Club 39. Das Schöne am Club 39 ist, dass dort eigentlich immer Leute sind, die ich kenne.

K. zum Beispiel. Sie war auf der Buchmesse und schenkt mir ein Bier, weil ich mein Geld vergessen habe. An der Theke steht der Dichter Scardanelli. Er erinnert mich daran, wie wir vor zwanzig Jahren mal zusammen auf der Buchmesse waren. Mit Peter Wawerzinek, Erich Maas, Bert Papenfuß und Harry Hass. Er erzählt Geschichten von Peter Wawerzinek. Wie sie zu irgendeinem Essen geladen waren und Heiner Müller war viel zu spät gekommen und in der Zwischenzeit hätten sie viel getrunken und seien beinahe rausgeworfen worden. Und später habe Wawerzinek Heiner Müller seinen nackten Hintern gezeigt.

Der Programmierer eines Alternativkinos findet, dass es eigentlich auch ganz schön sei, wenn manchmal nur fünf oder sechs Leute zu den Vorführungen kommen. Die interessieren sich dann wirklich, und es entwickeln sich oft gut Gespräche.

Galerie doch nicht weg

Angeduselt wieder nach Hause. Vor dem Schlafengehen Internet: Die Laura-Mars-Galerie ist immer noch in der Sorauer Straße; die Ausstellungseröffnung war jedoch schon um fünf Uhr abends.

Am Samstag fröne ich meinem Newsjunkietum, lese Zeitungen, gehe mittags zur Post. Ein Mann steht neben seinem Einkaufswagen an der Treppe vor der Post. Er ist total dicht und kann sich kaum aufrecht halten. Am Rande des Geldautomatenraums auf dem Boden liegt, in seinem Rausch dösend, ein Mann. Irgendwie finde ich das ganz gut, gerade hier in der Bergmannstraßengegend. In den Supermärkten fliegen Uli Hoeneß betreffende Halbsätze durch die Gegend: „370 Millionen hat der auf seinem Konto gehabt. Das musst du dir mal vorstellen.“ (Für 28 Millionen müsste ich mehr als 2.000 Jahre arbeiten.)

Auf dem Pflaster Kreideschriften: „Video Vertov im Kino“. Auch in der Reichenberger Straße wird für den neuen Film von Gerd Conradt geworben.

Der Wind heult um das Haus herum. Es regnet die ganze Zeit. Abends im Moviemento der neue Jim-Jarmusch-Film, „Only Lovers Left Alive“; nicht der Superfilm, aber ganz okay; man sitzt allein im halb leeren Kino; gegen Ende des Films ist einem ein bisschen kalt; vor allem sieht das Urban-Krankenhaus in der Nacht immer so angenehm melancholisch aus, wenn man daran vorbeifährt.

Biertrinkend endet das Wochenende im Club 49. Geheimnisse werden ausgetauscht. Mein Samstag ist aber eigentlich erst Montag; Fußball, um die Lunge auszulüften, dann Billardspielen bis in die Puppen und so.