Ein Treffen niedlicher Kälber

Ab morgen versammelt sich die internationale Zwillingswelt in Wolfsburg, und das ist natürlich ihr gutes Recht. Schöner wäre es, wenn sie etwas Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wüsste, als sich möglichst gleich gekleidet Vorträge über „Das Leben eines Zwillings – als Schwester, Mutter, Ärztin“ anzuhören, den Zwillingsmarkt zu besuchen oder die bekanntesten Werbezwillinge Deutschlands zu treffen.

Zwilling zu sein ist in gewisser Weise so, als wäre man rothaarig, man gehört einer Minderheit an, und das ist eigentlich nur für die anderen von Interesse. Die anderen finden Zwillinge niedlich, später interessant und erheitern sich an der eigenen Unfähigkeit, sie zu unterscheiden. Spätestens nach der Grundschule gibt es in dieser Hinsicht wenig neue Erfahrungen zu machen. Natürlich hinterlässt es Spuren, wenn man zehn Jahre unter anderem damit verbringt, Leuten begreiflich zu machen, dass es einen Unterschied macht, ob sie mit dir oder deinem Zwilling sprechen. Vielleicht lernt man etwas früher, weniger Wert darauf zu legen, dass alle mit einem reden.

Aber irgendwann ist man Gott sei Dank nicht mehr in der Schule, man kann sich mit Leuten umgeben, die sich die Mühe machen, einen mit dem richtigen Namen anzusprechen, und man kann sogar unterschiedliche Anziehsachen tragen.

Warum sollte man als erwachsener Mensch nach Wolfsburg reisen und sich bestaunen lassen wie ein Kalb im Zoo? Um andere Zwillingspaare darauf hinzuweisen, dass sie einen durch das Muttermal am Kinn unterscheiden können? In der Hoffnung, von der albernen Zwillings-Agentur, die das Ganze veranstaltet, für die Bewerbung von Haferkeksen entdeckt zu werden? Es gibt zweifellos großartige Aspekte des Zwillingslebens, und einer ist die zwangsläufige Erkenntnis, dass das Äußere nur begrenzt aufschlussreich ist. Und dann schleppen sich erwachsene Menschen, die es besser wissen sollten, an einen Ort, der eben dies als ihr größtes Kapital betrachtet. Als gäbe es im eigenen Leben nichts Bemerkenswerteres als die Teilung einer Eizelle vor geraumer Zeit und ohne eigenes Zutun. Friederike Gräff