Führt die CDU mit „Stuttgart 21“ Wahlkampf gegen das Volk?

Eskalation in Stuttgart: Bevor dort am Donnerstag die ersten Bäume für den Bau des neuen Bahnhofs gefällt wurden, ging die Polizei mit Wasserwerfern und Reizgas gegen die Demonstranten vor. Kanzlerin Merkel forderte diese zum „friedlichen Protest“ auf

PRO
BORIS PALMER ist Grünen-Politiker und Oberbürgermeister von Tübingen

Ein „Kommunikations-GAU“, meint Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus, sei die Ursache des Volksaufstandes gegen Stuttgart 21. Das stimmt: Die Befürworter von Stuttgart 21 haben mit der Öffentlichkeit lange so kommuniziert, als gelte es, einen politischen Gegner niederzuringen.

Den Leuten wurde erklärt, sie seien nur gegen Stuttgart 21, weil sie darüber schlecht informiert seien. Die Proteste wurden bagatellisiert („sind vorbei, wenn der Bagger rollt“) oder als Wahlkampf der Grünen abgetan.

Ministerpräsident Mappus selbst erklärte, in Wahrheit ginge es den Demonstranten nicht um den Bahnhof, sondern darum, die Macht der CDU im Land zu brechen. Tatsächlich aber sind die Proteste gegen Stuttgart 21 keine Parteitage, sondern Volksversammlungen. Und wer sein Leben lang CDU gewählt hat, wird sich kaum davon überzeugen lassen, er habe als Demonstrant am Bahnhof eigentlich nur den Sturz der Landesregierung im Sinn. Wahlkampf gegen das Volk kann man nicht gewinnen.

Das ist der Union an ihren Umfrageergebnissen nun auch aufgefallen. Sie hat die Protestierer in Stuttgart nun aufgegeben und versucht jetzt, sie mit einer doppelgleisigen Strategie als Prellbock im Wahlkampf einzusetzen. Die Kanzlerin höchstselbst sagt, an Stuttgart 21 hänge die Verlässlichkeit Deutschlands in Europa, die Glaubwürdigkeit der Politik und das Vertrauen in parlamentarische Entscheidungen. Arbeitgeberchef Hundt sekundiert, der Wirtschaftsstandort sei in Gefahr. Ulf Messerschmidt diagnostiziert im Auftrag der Landesregierung eine bedrohliche Technikfeindlichkeit bei der Bevölkerung. So wird das Projekt ideologisch aufgeladen und der Protest als rückwärtsgewandt dargestellt. Es geht nun um nicht weniger als Demokratie, Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit.

Parallel dazu werden die Demonstranten als „gefährlich“ und „gewaltbereit“ beschrieben. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt werden die symbolbeladenen Bäume im Schlossgarten gefällt. Der Polizeieinsatz und die Provokation sind so massiv, dass Ausschreitungen dabei in Kauf genommen werden. Das soll die Protestbewegung spalten und diskreditieren. So hofft die Union, sich im Landtags-Wahlkampf als Hüter von Recht und Gesetz zu profilieren.

Die friedliche Lösung, einen Volksentscheid über Stuttgart 21, lässt die Union nicht zu. Sie weiß, dass sie ihn verlieren würde.

CONTRA
THOMAS STROBL ist Generalsekretär der Baden-Württemberg-CDU und MdB aus Heilbronn

Nein, in Wahrheit machen andere Parteien mit „Stuttgart 21“ Wahlkampf gegen die CDU. Fest steht: Die Entscheidung für S21 ist demokratisch einwandfrei legitimiert, wie auch Joachim Gauck sehr pointiert festgestellt hat. Und für diese Entscheidung lohnt es sich, um Zustimmung zu werben.

„Stuttgart 21“ sorgt im Fern- und Regionalverkehr für schnelleres und bequemeres Bahn-Reisen und dafür, dass jährlich 1 Milliarde Auto-Kilometer (CO2-Ersparnis: 175.000 Tonnen) auf die Schiene verlagert werden. Dafür, dass Arbeitsplätze entstehen und die Grundlage unserer Wirtschaft verbessert wird. Dafür, dass in Stuttgart ein neues ökologisches Stadtviertel entsteht. Und an die Adresse all derjenigen, die jetzt um die gefällten Bäume trauern: Bei der Realisierung von Stuttgart 21 werden über 5.000 neue Bäume im neuen Stadtviertel gepflanzt. Eine Öko-Bilanz, die sich sehen lassen kann.

Politiker werden gewählt, um zu entscheiden; der Kritik müssen sie sich stellen. Diesen Wettstreit führt man mit Argumenten – nicht aber mit Vuvuzelas, Gebäudebesetzungen, Straßenblockaden und Gewalt. Ministerpräsident Mappus hat die S21-Gegner mehrfach zum Dialog eingeladen. Die Gesprächsangebote wurden von diesen einseitig abgebrochen.

Wer ein politisches Mandat und seine Verantwortung ernst nimmt, muss zu einer richtigen Entscheidung auch dann stehen, wenn sie umstritten ist. (So sind wir, anders als eine Volksbefragung in der Schweiz ergeben hat, im Rahmen des Baurechts für den Bau von Moscheen mit Minarett.) Wer sich immer nur Stimmungen anpasst, ist letztendlich nur wankelmütig und unzuverlässig und schielt populistisch nach dem nächsten Wahltag.

Die Westintegration der Bundesrepublik, die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, der Nato-Doppelbeschluss – alle diese, für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik richtigen Entscheidungen hätten in Volksentscheiden keine Mehrheit gefunden. Aber sie haben sich gegen massive Kritik bewährt. Die Entscheidung für S21 will ich nicht in diese Reihe epochaler Weichenstellungen stellen – dies hieße, die gleiche Überheblichkeit an den Tag zu legen wie die S21-Gegner: Sie nennen ihre Proteste in geschichtsvergessener Übertreibung „Montagsdemonstrationen“ und skandieren: „Wir sind das Volk!“ Die CDU schaut nicht auf den nächsten Wahltag, sondern verantwortungsvoll nach dem Wohl der nächsten Generation.