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Archiv-Artikel

Gesammeltes Gelb

Man muss nur darauf achten, dann sieht man es plötzlich überall. Es ist ein echtes Möbel für die Massen. Und das Beste: Es kostet nichts

Ich sehe was, was du nicht siehst, und es ist gelb. Du siehst es nicht, weil es längst Teil deines Alltags ist, verwachsen mit der Zimmerwand, dem Schreibtischbein, dem Boden. Du siehst es nicht, weil es dich nicht interessiert. Weil deine Aufmerksamkeit seinem Inhalt gilt, den du aufbewahren, verschenken, später einmal wegwerfen oder auch sortieren willst.

Ich hingegen erblicke es permanent, diese Gelbe, es ist überall. Bei mir. In Büros. In Wohnungen von Freunden und Fremden. Da schenkt es mir einen Fetzen Geborgenheit und lenkt meine Aufmerksamkeit von der Frage ab, was ich hier eigentlich mache.

Du weißt nicht, was ich meine? Ich gebe dir ein paar weitere Tipps. Wahrscheinlich besitzt du es selbst, vielleicht sogar mehrfach. Wenn du es nicht hast, dann deine Freunde, deine Kollegen. Aber es gehört dir nicht! Und auch nicht deinen Freunden oder Kollegen. Es gehört dir so wenig wie die verirrten Kugelschreiber in deinen Taschen, die entführten Feuerzeuge, die Luftpumpen, die Regenschirme.

Weißt du jetzt, wovon ich spreche? Noch ein Hinweis: Es wurde dir gebracht, aber du durftest dir bloß nehmen, was in ihm war, das Gelbe selbst solltest du wieder zurückgeben. Du hast es nicht getan. Weil du das Gelbe gut gebrauchen konntest.

Ich sage dir, was ich meine: Es sind diese Behälter aus Plastik, mit denen die Angestellten der Deutschen Post Firmen, Unternehmen, Bürogemeinschaften beliefern. Sie existieren in drei Größen. Klein für einfache Briefsendungen, mittel für Kompaktbriefe und groß für Maxisendungen. Die Postboten bringen volle Kisten – und wollen die leeren vom Vortag wieder mitnehmen. Aber allzu oft stoßen sie auf gähnende Leere statt gelber Behälter. Weil einer wie du sie sich geschnappt hat!

Die Deutsche Post kann die kreative Umwidmung ihrer gelben „Transportbehälter“ nicht witzig finden. Schließlich ist deren Produktion zwar nicht richtig teuer, aber auch nicht umsonst. Außerdem sind die gelben Kisten, die bis 1994 noch braun, schwarz oder grau waren, äußerst nützlich: Sie ersetzten im Zuge zunehmender Technisierung der Arbeitsprozesse Mitte der Siebzigerjahre die bis dahin gebräuchlichen labbrigen Postsäcke. Die Postbehälter laufen automatisch über Fließbänder, während Postsendungen in sie hineingleiten. Ein von sämtlichen Maschinen der Deutschen Post lesbarer Barcode an den Behältern sorgt dafür, dass sie mit der richtigen Post gefüllt in die richtige Richtung fahren. Und der Postbote im Zustellbezirk muss die Kisten dann nur noch auf sein gelbes Postrad wuchten – nebeneinander passen zwei von ihnen exakt auf seinen Gepäckträger. Und schon kann er mit der Auslieferung beginnen.

Die Deutsche Post spricht von „Zweckentfremdung“. Wo doch „Werbung“ ein viel treffenderer Begriff wäre. Immerhin dominiert die Farbe des Konzerns diverse Büros, Arbeitszimmer und Studentenbuden, wobei der schwarze Namenszug „Deutsche Post“ unübersehbar auf den Längsseiten der Kisten prangt – mit dem übelnehmerischen, aber offensichtlich wenig Respekt einflößenden Vermerk „Eigentum“ darüber.

Bei den gelben Behältern der Post handelt es sich um äußerst funktionale Gegenstände. Nicht nur, weil sie die Arbeit der Briefträger und Briefe-auf-den Weg-Schicker so ungemein vereinfachen. Auch, weil sie sich im privaten Gebrauch des kreativen Postkunden ganz hervorragend und ausgesprochen vielfältig nutzen lassen. Als Umzugskiste, Kleiderschrank, Wäschekorb, Krimskramskasten, Spielzeugbox. Als Koffer für Autoreisen. Als Bücherregal und als Papierkorb. Als Stuhl oder Tisch oder beides. Vielleicht sogar als Heim für kleine Nager.

Oder als Endlagerstätte für einfach alles. Exzessive Flohmarktgänger zum Beispiel haben längst die Segnungen der gelben Box erkannt: Sie schafft Ordnung, ist umsturzsicher und sogar fast staubfrei. Sie splittert nicht und ist langlebig. Ein sicheres Zuhause in Gelb. Sammler J. zum Beispiel – seinen Namen möchte er nicht öffentlich nennen, verständlicherweise – hat sich auf Design der Fünfziger- und Sechzigerjahre spezialisiert. Doch längst ist seine Wohnung zu klein für all die Braun-Radios, die Wagenfeld-Vasen und Arzberg-Service. In seiner Zweizimmerwohnung lagern nur noch die Juwelen der Sammlung. Für alles Doppelte und die vielen Nebensammelgebiete muss man auf J.s Dachboden gehen. Dort stehen sie säuberlich in Reih und Glied: dutzende gelbe Kisten diversen, unsichtbaren Inhalts. Selbst ohne Regal lassen sich die gelben Boxen mühelos zu ansehnlichen Türmen stapeln, bei Bedarf aber auch bis zur Hälfte ineinander versenken. „Volumenreduzierend“ nennt die Post diese noble Eigenschaft.

Selbst Geschirr lässt sich nach J.s Expertise in den gelben Behältern prima lagern, denn sie haben die perfekte Höhe für Kannen, Vasen, tutti quanti. Nur große Teller sind wegen der geringen Breite der Post-Container hier fehl am Platz. „Da hilft nur die gute alte Bananenkiste“, sagt J. Und klingt fast beleidigt. Könnte die Post nicht auch noch eine breitere Kiste entwickeln? Irgendeine Verwendung im Postalltag müsste sich doch finden lassen.

Allein: nur die reine Nützlichkeit zu preisen hieße das wahre Wesen der Postkiste zu verkennen, welches ein ästhetisches ist. Laut Corinna Rösner, Konservatorin an der Neuen Sammlung München, glänzt die gelbe Box als „bewusst gestalteter Gegenstand des Gebrauchs“ durch ihr diskretes und trotzdem flippiges Design. Allerdings erst, nachdem sie durch den kreativen Akt der Inbesitznahme „emotional aufgeladen“ wurde. Jetzt haftet an ihrer klaren, sachlichen Oberfläche das Geheimnis ihres Inhaltes. Außerdem erinnert die gelbe Kiste mit dem Posthorn-Logo stets an die verhaltene Erregung, mit der Briefumschläge auf-, und Paketschnüre durchgerissen werden, an die prickelnd-quälende Neugier, mit der Hände über verschlossene Päckchen streichen, an die unvorstellbaren Verheißungen, die in den Mitbringseln der Postboten sich verbergen können. Und natürlich an den Kitzel unrechtmäßigen Besitzes …

Die Deutsche Post hockt etwas schmollend am Rand des kreativen Spielfeldes in Gelb. Dabei sollte sie sich zu ihrer führenden Rolle in Sachen Massendesign gratulieren. Sie hat einen modernen Klassiker geschaffen.

CORNELIA GELLRICH