Die Angst der Anständigen in Anklam

NEONAZIS Zehn Jahre nach Gerhard Schröders großem Aufruf zum „Aufstand der Anständigen“: In der Kleinstadt Anklam in Mecklenburg-Vorpommern können Rechtsradikale nahezu ungehindert agieren

BERLIN/ANKLAM taz | Zehn Jahre nach dem eindringlichen Appell des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) ist der geforderte „Aufstand der Anständigen“ gegen Rechtsextremismus in Deutschland vielerorts in Vergessenheit geraten. Empört über eine Serie von Anschlägen auf Juden und Zuwanderer in Deutschland, waren im Herbst 2000 in Berlin 300.000 Bürger für „Menschlichkeit und Toleranz“ auf die Straße gegangen. Heute jedoch haben sich Rechtsextreme in einigen Regionen des Landes einen festen Platz im Alltagsleben erkämpft.

Eine Entwicklung, die sich besonders drastisch in der 13.000-Einwohner-Stadt Anklam im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern zeigt. Obwohl dort inzwischen zwei staatlich finanzierte Beratungsstellen mit hauptberuflichen Mitarbeitern die Kommunalpolitik und die Bevölkerung bei ihrem Engagement gegen rechts unterstützen, kommt bis heute kein breiter Bürgerprotest gegen die rechtsextreme Landnahme zu Stande. Ein entscheidendes Hindernis ist nach Ansicht von Fachleuten inzwischen auch die Angst vieler Menschen, sich den Neonazis offen entgegenzustellen. Die Bürger fürchteten nicht nur gewalttätige Racheaktionen, sondern außerdem die soziale Isolation. Denn fast jeder in Anklam habe inzwischen einen Rechtsextremen im engsten persönlichen Umfeld, sagt der Politikwissenschaftler Dierk Borstel. Eine Umfrage des Sozialforschers Wilhelm Heitmeyer ergab, dass bereits 34 Prozent der Einwohner die NPD für eine ganz normale Partei halten.

Der Anklamer Bürgermeister Michael Galander sagt selbstkritisch: „Wir haben den Rechtsextremen hier zu viel Spielraum gelassen.“

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