: Eine Wahl wie aus dem Lehrbuch
Wer kennt den Artikel 62 der Landesverfassung oder weiß, wie die Bezirksämter zusammengestellt werden? Doch darüber entscheiden am Sonntag die Wähler. Eine Handreichung zum Urnengang
VON MARLENE WOLF
Im Wahllokal bekommt jeder Wähler einen Haufen Papier ausgehändigt. Auf zwei orangenen, zwei grauen und einem blauen Stimmzettel darf man dann die Zukunft der Stadt beeinflussen.
Die Erststimme
Mit dem ersten, grauen Stimmzettel wird keine Partei, sondern eine Person gewählt. In jedem der 78 Wahlkreise treten zwischen fünf und zehn Politiker an. Wer die meisten Stimmen bekommt, darf direkt in das Abgeordnetenhaus einziehen. Diese Parlamentarier sind dann Direktkandidaten. Insgesamt bewerben sich 555 PolitikerInnen um ein solches Mandat. SPD, CDU, Linkspartei und die Grünen haben in jedem Wahlkreis Kandidaten aufgestellt. Andere wie etwa FDP oder auch die NPD treten nur in einigen Kreisen an. Hinzu kommen noch insgesamt neun parteilose Einzelbewerber.
Die Zweitstimme
Der blaue Stimmzettel ist der vermutlich wichtigste. Denn die so genannte Zweitstimme entscheidet über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses. Insgesamt 23 Parteien stehen auf dem Zettel. Alle Parteien, die mehr als fünf Prozent der Stimmen erreichen, bekommen Sitze im Landesparlament. Die genaue Verteilung der 130 Mandate nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren garantiert, dass alle Parteien entsprechend ihrem Stimmenanteil im Parlament vertreten sind. Sollte es für den letzten Platz die gleiche Prozentzahl bei zwei Parteien geben, entscheidet der Landeswahlleiter per Los.
Bei der Vergabe der Sitze werden zunächst die Gewinner der Direktmandate berücksichtigt. Die übrigen Plätze füllen die Fraktionen mit den Bewerbern ihrer Landes- beziehungsweise Bezirkslisten. Wer weiter oben auf der Liste steht, zieht als Erstes in das Landesparlament ein.
Es kann aber sein, dass eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr laut Zweitstimmen Sitze im Parlament zustünden. Dann hat die Partei sogenannte Überhangmandate. Damit das Kräfteverhältnis im Parlament weiter stimmt, bekommen die anderen Fraktionen dann Ausgleichsmandate. Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten. Momentan sitzen deshalb 141 Parlamentarier im Preußischen Landtag.
Die Bezirkswahl
Der dritte, orangene Zettel entscheidet über die Zusammensetzung der Bezirksverordnetenversammlungen (BVV). Anders als beim Landesparlament hat der Wähler nur eine Stimme, die Sitze werden ausschließlich über Listen vergeben. Auf lokaler Ebene haben es kleine Parteien leichter ins Parlament zu kommen, sie müssen nur mindestens drei Prozent der Stimmen erhalten. Daher treten in einigen Bezirken neben den Parteien auch Wählergemeinschaften an. Allerdings wird auch befürchtet, dass die NPD in vier Bezirken in die Bezirksverordnetenversammlung einziehen wird.
Nach dem Prinzip der Verhältniswahl werden die 55 Plätze in den insgesamt zwölf Bezirksparlamenten verteilt. Die Bezirksverordnetenversammlung entscheidet unter anderem über Bauvorhaben im Bezirk und die Förderung von Vereinen wie Jugendprojekten. Auch der Bezirkshaushalt wird von den Verordneten beschlossen, er muss allerdings durch das Abgeordnetenhaus bestätigt werden.
Außerdem wählt die BVV das sechsköpfige Bezirksamt. Die Posten in dieser Bezirksregierung werden je nach Stärke auf die Fraktionen verteilt. Nur diese können dann Kandidaten für die ihnen zustehenden Posten vorschlagen. Politische Zusammenschlüsse spielen nur bei der Wahl des Bürgermeisters eine Rolle. Denn hier werden die Kandidaten entweder von der stärksten Fraktion oder von einer stärkeren „Zählgemeinschaft“ anderer Parteien benannt.
Diese Ämterverteilung nach Proporz wird dieses Jahr letztmalig durchgeführt. Bei der nächsten Wahl 2011 wird auch auf Bezirksebene eine echte Regierung gewählt – das so genannte politische Bezirksamt.
Schon diesmal können auch Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme bei der Bezirkswahl abgeben. Ebenfalls wahlberechtigt sind die insgesamt 120.000 Staatsangehörigen aus EU-Ländern, die in Berlin wohnen.
Die Volksabstimmung
Einmalig ist der zweite, graue Stimmzettel. Hier geht es nicht um Parteien, sondern um direkte Demokratie. „Stimmen Sie der Änderung der Artikel 62 und 63 der Verfassung von Berlin (…) zu?“ lautet die kryptische Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten darf. Die Artikel der Verfassung regeln den Ablauf von Volksbegehren und Volksentscheid auf Landesebene. Die sind zwar schon jetzt möglich, bisher scheiterten aber alle Initiativen an den extrem hohen Hürden.
Nun soll das Plebiszit vereinfacht werden. So reichen nach der neuen Verfassung für den Antrag auf ein Volksbegehren künftig 20.000 statt bisher 25.000 Unterschriften aus. Zudem könnten Haushaltsfragen Thema eines Begehrens sein, das war vorher nicht möglich.
Im Abgeordnetenhaus haben sich bereits alle fünf Fraktionen – auch die CDU – nach langwierigen Verhandlungen auf die Gesetzesnovelle geeinigt. Deshalb ist dabei auch nur ein Kompromiss entstanden, der die Wünsche von Anhängern direkter Demokratie nur in Teilen erfüllt. Dennoch bleibt unterm Strich eine Verbesserung für die BürgerInnen. Wenn sich am Sonntag eine Mehrheit für Ja ausspricht, tritt die neue Verfassung in Kraft.
Der Bürgerentscheid
Auf Bezirksebene gibt es seit 2005 die Möglichkeit per Bürgerentscheid die Politik direkt zu beeinflussen. Deshalb bekommen alle Wähler in Lichtenberg am Sonntag noch einen fünften, orangenen Stimmzettel. Sie sollen über die Zukunft des Hans-und-Hilde-Coppi-Gymnasiums entscheiden. Da die Schülerzahlen sinken, will die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) den Standort aufgeben und die Schule mit einem anderen Gymnasium zusammenlegen. Eine Bürgerinitiative will das verhindern und sammelte ausreichend Unterschriften für ein Bürgerbegehren. Deshalb kommt es nun erstmals in Berlin zu einem Bürgerentscheid.
Leider dürfen sich die Lichtenberger nicht einfach für oder gegen die Schulfusion entscheiden. Stattdessen müssen sie einzeln über den Vorschlag der Bürgerinitiative und den der BVV abstimmen. Für den absurden, aber theoretisch möglichen Fall, dass beide Vorschläge eine Mehrheit erlangen, müssen die Lichtenberger auch noch ankreuzen, welche der beiden Lösungen sie vorziehen würden. Komplizierter kann Demokratie fast nicht gestaltet werden.