Der Vernunft zuwider

Bei seiner Islamkritik zitiert der Papst den falschen Gewährsmann. Der byzantinische Kaiser Manuel II. interessierte sich mehr für Philosophie als für Theologie, und er war mit den Türken verbündet

VON RALPH BOLLMANN

Ist es um den Westen wirklich schon so schlimm bestellt? Dass sich der Papst in seiner Auseinandersetzung mit dem Islam ausgerechnet auf den spätbyzantinischen Kaiser Manuel II. (1391–1425) bezieht, klingt zunächst sehr alarmistisch. Denn zu Manuels Regierungszeit war Byzanz praktisch nur noch ein Stadtstaat, der sich auf die Metropole Konstantinopel selbst beschränkte und darüber hinaus lediglich die Stadt Thessaloniki und kleinere Gebiete auf dem Peloponnes beherrschte. Das christliche Abendland, so könnte man den Papst also verstehen, ist vom Islam schon auf fast allen Seiten umzingelt – im Falle von Byzanz dauerte es nach Manuels Tod gerade noch 28 Jahre bis zum endgültigen Untergang.

Eine zweite Frage drängt sich auf: Wer hat die Byzantiner überhaupt in die missliche Lage gebracht, in der sie sich zum Zeitpunkt des von Benedikt XVI. zitierten Gesprächs befanden? Wer hatte im Jahr 1204 die noch blühende Stadt Konstantinopel geplündert und all ihres Glanzes beraubt? Richtig: Die Kreuzritter, die just von Benedikts Vorgängern in Marsch gesetzt worden waren, von den Päpsten der lateinischen Westkirche.

Insofern war es womöglich ein Glück für Manuel, dass seine Hilferufe in Richtung Westen unerhört blieben. Über Venedig und Mailand reiste der Kaiser bis nach Paris, um die katholischen Christen für einen Feldzug gegen die immer mächtigeren Osmanen zu gewinnen.

Doch die Glaubensgenossen jenes Joseph Ratzinger, der sich nun so wortreich auf Manuels Seite schlägt, wollten davon nichts wissen. Mit seiner griechischen Bildung stieß der Kaiser zwar auf lebhaftes Interesse, politisch aber standen andere Fragen auf der Agenda.

Statt von den Katholiken wurde das orthodoxe Byzanz gleich zweimal von nichtchristlichen Heeren gerettet. Zunächst waren es die Mongolen, die nach Anatolien vorrückten und die Osmanen 1204 in der Nähe von Ankara vernichtend schlugen. Damit war die osmanische Blockade Konstantinopels beendet, die den Stadtstaat bereits in arge Bedrängnis gebracht hatte. Sodann kam es Manuel zugute, dass sich die Söhne des Sultans im Anschluss an die Niederlage untereinander zerstritten. Während einer von ihnen, Musa, den Krieg gegen Konstantinopel fortsetzte, zog der andere, Mehmed, ein Bündnis mit dem Kaiser vor. Manuel hatte das Glück, dass sein Partner siegreich aus dem Streit hervorging – und ihm für den Rest seiner Regierungszeit die Treue hielt. So war es ausgerechnet ein Türke, der dem Helden des heutigen Papstes die Regentschaft sicherte.

Den Kaiser dürfte das kaum gestört haben. Denn in der Epoche Manuels trat die christliche Prägung der byzantinischen Gesellschaft, analog zur westeuropäischen Renaissance, zugunsten einer Rückbesinnung auf die antike Philosophie in den Hintergrund. Nur durch Berufung auf seine griechischen Wurzeln konnte der Kleinstaat, zu dem Byzanz mittlerweile geworden war, seinen Anspruch auf einen europäischen Rang aufrechterhalten. Verkörpert wurde dieses Denken vor allem durch den Philosophen Plethon, der alles andere als ein Freund des Christentums war und die Rettung des Reichs in der Rückkehr zu griechischem Denken sah.

„Nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“: Auf diesen Satz, den der byzantinische Kaiser seinem muslimischen Gesprächspartner angeblich entgegenhielt, hat sich der Papst in Regensburg berufen. Was für ein Missverständnis. Wäre der Monarch mit dem katholischen Theologen Joseph Ratzinger zusammengetroffen, er hätte ihm wahrscheinlich die gleiche Aussage entgegengeschleudert. Betrachtet man Manuels geistiges Umfeld, war für ihn die Vernunft, griechisch „logos“, wohl über jede Form von Glaubensdoktrin erhaben – sei sie nun orthodox, katholisch oder eben auch muslimisch.

Auch der weitere Gang der Geschichte zeigt, das Benedikts Unterscheidung zutiefst ahistorisch ist. Als Byzanz 1453 unterging, etablierten sich die Osmanen endgültig als integraler Bestandteil des europäischen Mächtekanons. Zugleich entfernte sich auch der lateinische Westen zusehends von seinen religiösen Wurzeln. Nicht zuletzt galt das in der Renaissancezeit auch für die überaus weltlich agierenden Herrscher einer mittelitalienischen Großmacht namens Kirchenstaat. Die „Türkengefahr“, die im 17. Jahrhundert dann heraufbeschworen wurde, war über weite Strecken ein ideologisches Konstrukt, das habsburgischen Machtinteressen diente. So wurde es in weiten Teilen Europas auch gesehen, weshalb Frankreich nicht zögerte, sich mehrfach mit den Osmanen zu verbünden.

Der geistesgeschichtliche Gegensatz zu „dem“ Islam, den Joseph Ratzinger in seiner Regensburger Vorlesung konstruiert, findet in der byzantinisch-osmanischen Geschichte jedenfalls keine Grundlage.