: Geisterhafte Glissandi
FOSSIL Das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf belebt ein fast vergessenes elektronisches Instrument wieder: das Trautonium
Es war bereits fast vergessen. Das Trautonium, ein frühes Instrument zur elektronischen Klangerzeugung, das der Elektrotechniker Friedrich Trautwein in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu entwickeln begann, hatte sich in der Welt der Musik nie wirklich durchgesetzt, auch wenn seine Klänge einer durchaus breiten Öffentlichkeit bekannt waren. Die unheimlichen Vogelklänge in Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ wurden mit diesem Vorläufer des Synthesizers erzeugt.
Als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bietet das Trautonium statt einer Tastatur eine Saite an, auf der innerhalb eines großen Tonumfangs beliebig viele Zwischentöne erzeugt werden können. Einen Ton ganz genau zu treffen ist dagegen schwierig; dies um so mehr, als das Trautonium eine Untertonreihe erzeugt, die bei herkömmlicher Musikerzeugung nicht anfällt (nur Glocken können das auch) und dem Ohr daher ungewohnt ist. Ein Ton wird weniger als Ton denn als Toncluster wahrgenommen.
Dass das musikalische Denken der damaligen Zeit nicht reif war für diese spezielle Art von Klangerzeugung, zeigt sich an Paul Hindemiths Konzertstück für Trautonium und Orchester von 1931, das der Pianist Jan Gerdes zusammen mit dem Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf am Sonntag im Kammermusiksaal zu Gehör brachte. Hindemith, der an der Entwicklung des Instruments interessiert war und als erster Komponist dafür schrieb, behandelt es nicht viel anders als ein einstimmiges Soloklavier, obgleich auf der elektrifizierten Saite in Tonhöhe und -länge nur Annäherungswerte erreicht werden können. Melodie und Rhythmus sind also Kategorien, die nicht präzise greifen. Entsprechend apart klingt das Resultat. Als Experiment ist es ein großer Spaß.
Dass dieses Experiment zustande kam, geht auf eine Initiative des Marzahn-Hellersdorfer Jugendsinfonieorchesters unter seinem Leiter Jobst Liebrecht zurück. An der Musikschule Marzahn-Hellersdorf wird der frühe Umgang mit Neuer Musik gepflegt. Die Schering-Stiftung gab Geld, und Liebrecht fragte beim Komponisten Benjamin Schweitzer an, ob der sich vorstellen könnte, ein Trautoniumkonzert zu schreiben. Schweitzer wollte, und der Marzahner Physiklehrer Bernd Eichner baute das Instrument dazu, denn es gibt nur noch sehr wenige, kostbare historische Exemplare. Eichner war bei der Einführungsveranstaltung sichtlich nervös, ob das Instrument auch funktionieren würde (sicherheitshalber hatte er es mit einem MIDI-Eingang versehen, um die Töne notfalls per Computer erzeugen zu können). Er konnte nach dem Konzert aufatmen. Das Marzahner Trautonium hat sein Jungfernkonzert bravourös überstanden.
Benjamin Schweitzer hat seine Komposition „Blindflug“ getauft, da das Instrument, für das er schrieb, während des Komponierens erst im Entstehen begriffen war. Sie trägt der klanglichen Eigenart des Trautoniums Rechnung und nutzt vor allem dessen überlegene Glissando- und Vibratomöglichkeiten.
Als fast geisterhafte akustische Erscheinung, einer singenden Säge klanglich näher als jedem Orchesterinstrument, konterkariert der Klang des Trautoniums die strukturierenden musikalischen Akzente, die durch einzelne Orchestergruppen gesetzt werden. (Man staunt dabei, was diese jungen Leute schon können.) Das Trautonium fliegt immer wieder dazwischen mit gleitenden, die Strukturen tonal weichzeichnenden Klangfolgen, in denen die Trennung zwischen einzelnen Tonwerten aufgehoben ist. Es ist ein überzeugender musikalischer Umgang mit einer Pioniertechnik von gestern. Diese wurde zwar durch ihre eigenen Nachkommen überholt. Sie hat aber, wie die MarzahnerInnen – vor allem Christina Dietrich am Trautonium – beweisen, einen sehr eigenen ästhetischen Reiz. KATHARINA GRANZIN