: Anarchismus, Sexualaufklärung und ein abenteuerliches Leben
UNBEUGSAM Emma Goldmans Autobiografie „Gelebtes Leben“ ist der Schlüssel zu einer Epoche heroischer und tragisch endender Kämpfe. Die Millionärin Peggy Guggenheim ermöglichte der Frauenrechtlerin und Anarchistin, ihre packenden Memoiren 1930 im französischen Exil zu verfassen
Von RUDOLF WALTHER
Ihren 50. Geburtstag am 27. Juni 1919 verbrachte die Anarchistin, Frauenrechtlerin und Sexualaufklärerin Emma Goldman in einem Gefängnis in Missouri und zog Bilanz über ihr abenteuerliches Leben: Dreißig der fünfzig Jahre stand „ich in der Schusslinie“. Das ist metaphorisch und wörtlich zu verstehen, wie man der über 900 Seiten starken Autobiografie „ Living my Life“ (1931) entnehmen kann. Das Buch erschien 1979-80 in drei Bänden im Karin Kramer Verlag in Berlin und ist nun in einer revidierten Übersetzung unter dem Titel „Gelebtes Leben“ im Nautilus Verlag wieder erschienen.
Die in Kowno im heutigen Litauen geborene Emma Goldman verbrachte ihre Jugend in Königsberg und in Sankt Petersburg, emigrierte 1886 – mit 17 Jahren – in die Vereinigten Staaten, wo sie in Rochester im Staat New York bei ihrer Schwester unterkam. Sie schlug sich als Näherin in einer Fabrik durch, heiratete 1887 und trennte sich noch im gleichen Jahr, weil sie bereits als Kind unter dem „Terror des Ehelebens“ ihrer Eltern gelitten hatte. Sie verschrieb sich dauerhaft der Unabhängigkeit und der „freien Liebe“ und heiratete erst als 56-Jährige nochmals, um die britische Staatsbürgerschaft und ein sicheres Asyl zu erhalten.
Am 15. August 1889 kam sie aus der Kleinstadt nach New York City. Sie fand Anschluss an anarchistische Gruppen um den Exildeutschen Johann Most (1846-1906), mit dem sie sich bald verkrachte. Sie verliebte sich in den russischen Emigranten Alexander Berkman (1870-1936).
Eindringlich beschreibt sie das ebenso schwierige wie solidarische Zusammenleben von kleinen anarchistischen Gruppen, die sich schworen, „alles zu teilen und wie richtige Genossen zu leben“. Die Anarchisten litten seit dem Anschlag auf dem Haymarket Square (4.5.1886) und der Hinrichtung von vier willkürlich herausgegriffenen Aktivisten und Gewerkschaftern unter polizeilicher Beschattung und Verfolgung.
1892 besetzten Streikende das Homestead Werk in New York. Bei der polizeilichen Räumung starben zehn Arbeiter. Emma Goldmans Geliebter Berkman sah im Werksleiter Henry Clay Frick den „verantwortlichen Faktor in diesem Verbrechen“, drang in dessen Büro ein und schoss auf ihn. Frick überlebte das Attentat, aber Berkman verschwand für 14 Jahre im Gefängnis. Er wurde 1906 auf Bewährung entlassen.
Emma Goldman beschreibt in ihren Memoiren den ebenso zähen wie fast aussichtslosen Kampf anarchistischer Gruppen gegen Polizeiwillkür und für die Befreiung inhaftierter Genossen, aber auch die permanenten Auseinandersetzungen und Verdächtigungen unter den verschiedenen anarchistischen Grüppchen. Emma Goldman landete mehrmals im Gefängnis – nicht nur wegen ihrer politischen Agitation für den Anarchismus, sondern auch für sexuelle Aufklärung und Geburtenkontrolle.
Sie unternahm zahlreiche Reisen nach London, Paris oder Wien, vor allem aber innerhalb der USA, wo sie der „Liga für Redefreiheit“ beitrat und Geld sammelte für inhaftierte Genossen. Einen Höhepunkt erreichte die polizeiliche Verfolgung der Anarchisten weltweit nach den Attentaten auf die österreichische Kaiserin Elisabeth (10.9.1898), den italienischen König Umberto I. (29.7.1900) und den US-amerikanischen Präsidenten William McKinley (6.9.1901). Emma Goldman hielt dieses Attentat zwar für einen „ausschließlich terroristischen Akt ohne propagandistischen, erzieherischen Wert“, verklärte es jedoch auch zur „gesellschaftlichen Notwendigkeit“.
Sie setzte ihre Vortragsreisen über Anarchismus, Sexualaufklärung und Geburtenkontrolle fort und referierte allein 1910 rund 120 Mal in 37 Städten vor rund 25 000 Zuhörern. Sie wurde ebenso bekannt wie berüchtigt, aber „eine wirklich große amerikanische Öffentlichkeit“ erreichte sie nach eigener Einschätzung nie.
Der packendste Teil der Autobiografie betrifft die Zeit des Ersten Weltkriegs und der russischen Oktoberrevolution. Schon 1908 wurde Emma Goldman die US-amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt. Ihre Agitation gegen den Krieg und die Einführung der Wehrpflicht am 18. Mai 1917 führten zur sofortigen Verhaftung und Internierung. „Der Wahnsinn des Patriotismus“ verbreitete sich und „verwandelte das Land in ein Irrenhaus“, schreibt sie. Goldman und Berkman galten als „feindliche Ausländer“ und wurden nach langer Haft am 21.12.1919 zusammen mit 250 anderen „Radikalen“ per Schiff ins revolutionäre Russland abgeschoben.
Die Erwartungen Emma Goldmans waren riesig, obwohl sie vom internationalen Dauergezänk zwischen Sozialisten und Anarchisten seit der Gründung der Ersten Internationale (1864) wusste. Emphatisch begrüßte sie ihre Deportation: „Sowjetrussland! Geheiligter Boden, magisches Volk! Ich bin hier, um Dir zu dienen, geliebte Matuschka“.
Angesichts geheimpolizeilicher Übergriffe, Massenhinrichtungen, Requisitionen bei den Bauern und 34-fach abgestufter Lebensmittelrationen trat schnell Ernüchterung ein. Goldman verteidigte Lenin, Trotzki und die Bolschewisten zunächst, entdeckte aber hinter der „Bühnenschminke“ bald „Diktatur, Terror, Dogmatik“.
Ein „Labyrinth der revolutionären Widersprüche“, die nun ebenso als „ökonomische Notwendigkeiten oder „revolutionäre Notwendigkeiten“ verbrämt wurden, wie sie es früher bei Attentaten von Terroristen getan hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Intellektuellen sah Emma Goldman jedoch früh, dass sich die Diktatur in Russland nicht übergangsweise, sondern „für die Ewigkeit“ installierte. Im Dezember 1921, einige Monate nach der Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt, verließen Emma Goldman und Alexander Berkman ein Land „in Blut. Ich war am Ende. Ich konnte es nicht länger aushalten.“
Die nächsten zehn Jahre verbrachte sie in Skandinavien, Deutschland Frankreich, England und Kanada. Politisch noch mehr marginalisiert als zuvor, hielt sie sich mit Vorträgen und Spenden notdürftig über Wasser.1929 kaufte ihr die Millionärin Peggy Guggenheim „im malerischen Fischerdorf Saint-Tropez“ ein Haus und ermöglichte ihr, mit Hilfe einer Sekretärin die Autobiografie zu schreiben, die bis 1930 reicht. Ihre letzten Lebensjahre, u.a. ihr Engagement im spanischen Bürgerkrieg, bis zu Ihrem Tod 1940 behandelt das Buch nicht.
Es ist verdienstvoll, dass der Verlag das Werk dieser außerordentlichen Frau, die die Schwächen der anarchistischen Bewegungen nicht kaschiert, wieder zugänglich gemacht hat.
■ Emma Goldman: „Gelebtes Leben. Autobiografie“. Aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa, Sabine Vetter und Tina Petersen. Nautilus Verlag, Hamburg 2010, 909 Seiten, 34,90 Euro