Manhattan, Bagdad, Berlin

WELTHALTIGKEIT Ein Klagelied vom Kampf der Kulturen: Thomas Lehrs „September“ beweist, dass Einfühlungskraft weiter reichen kann als purer Dokumentarismus. Damit kriegt der Roman eine Eins plus vom Feuilleton – und ist ja auch wirklich gut

Zweitdümmste Kategorie der Literatur- kritik: „Authentizität“

VON JÖRG MAGENAU

Die dümmste Kategorie der Literaturkritik ist „Welthaltigkeit“. Obwohl niemand weiß, was damit gemeint ist, entwickelte sich der Begriff zu einem Gütesiegel literarischer Verbrauchstester im Zeitalter globaler Warenwirtschaft. Doch wie viel „Welt“ muss ein Roman enthalten? Entspricht die Welthaltigkeit etwa dem Fettgehalt von Milchprodukten? Und wie wäre das enthaltene Weltquantum korrekt zu vermessen? Ist die deutsche Provinz, beispielsweise, weniger welthaltig als, sagen wir, Bagdad oder Manhattan?

So viele Fragen. Sie sind aber unvermeidlich, da die Jury des Deutschen Buchpreises ihre Kandidaten für die Shortlist mit dem Hinweis versah, es handle sich dabei um Bücher von besonderer „Welthaltigkeit“. Das welthaltigste unter all diesen Welthaltern ist vermutlich Thomas Lehrs großes Epos „September. Fata Morgana“, ein Roman, der in Manhattan und in Bagdad spielt und seinen Welthaltigkeitsko- effizienten mit den Themen 11. September, Irakkrieg, Selbstmordattentate, Bush & Saddam, Trauer, Tod & Verzweiflung mächtig potenziert.

Das wirkt so, als habe ein Autor sich vorgenommen, die Hausaufgaben, die das Feuilleton so stellt, möglichst vorbildlich zu erledigen. Tatsächlich hat Lehr dafür reihum die Note Eins plus erhalten.

Zu Recht. Denn ihm gelingt etwas Erstaunliches: die Transformation von Politik in Literatur, von Meinung in Erfahrung, von Wissen in Sprache. Die Handlung ist dabei gar nicht so wichtig und wirkt in ihrer Konstruiertheit eher ein wenig hölzern. Lehr erfindet mit Martin einen deutschen Germanisten und Goetheforscher, der zusammen mit seiner Tochter Sabrina in den USA lebt. Ihm stehen der irakische Arzt Tarik und dessen Tochter Muna gegenüber, und so wie Martin nach dem 11. September um seine Tochter trauert, die im World Trade Center ums Leben kommt, so verliert auch Tarik Familienangehörige bei einem Bombenattentat im Jahr 2004. Lehr setzt diese Schicksale nicht einfach parallel zueinander, sondern erzählt gleichsam über Kreuz aus diesen vier Perspektiven: Tarik hat in Paris studiert und ist auf die westliche Kultur bezogen, während Martin sich mit Goethes „West-östlichem Diwan“ der orientalischen Kultur annähert. Seine Tochter Sabrina wendet sich eher den Naturwissenschaften zu, während Muna sich in der eigenen Phantasie verliert, so dass ihren Erzählungen, wie sich zeigt, nicht immer ganz zu trauen ist. Selbst ihr Tod ist weniger eindeutig, als der Klappentext suggeriert.

Aber all das ist nicht entscheidend, und es wäre einigermaßen langweilig, wenn Lehr nicht einen rhapsodischen Erzählton gefunden hätte. In seiner Atemlosigkeit und seiner poetischen Kraft erinnert das an die verschachtelten Märchen aus Tausendundeiner Nacht. In der historischen Genauigkeit, die auch Medienbilder und -erzählungen aufnimmt (von den einstürzenden Türmen bis zu Saddam im Erdloch), ist diese Erinnerungslandschaft auch als Sachbuch zu gebrauchen. In der doppelten, west-östlichen Perspektive auf die Geschichte orientierte sich Lehr an Goethe und an Homers großer Kriegserzählung „Ilias“. Auch „September“ ist ein Gesang vom Kampf der Kulturen – oder besser: von ihrer wechselseitigen Durchdringung, eine Elegie, ein Klagelied.

Für diesen musikalischen Zugang, der Sprache als Ton und Rhythmus begreift, verzichtet Lehr auf alle Satzzeichen, was die Lektüre mühsam macht. Es ist, als rühre man in einem Topf mit Popcorn oder Bulgur, aus dem man sich die Körner einzeln zusammensuchen muss – bis endlich der Geschmack des Ganzen dominiert. Sehr stark wirken die Gedichte, die Lehr immer wieder einstreut (auch das ist wie in orientalischen Märchen). Sie sind in dieser Prosa so etwas wie Anlaufstellen und Haltepunkte.

Was geschieht, geschieht, da kann man nichts machen; und doch zeigt Lehr, dass es sehr wohl auf die Haltungen jedes Einzelnen ankommt

„September“ ist ein Buch der Gegensätze und der Grenzüberschreitungen, das die Dinge, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, zueinander in Beziehung setzt und sie dadurch beweglich macht: Ost und West, Mann und Frau, Krieg und Frieden, Leben und Tod, Imagination und Realität, Prosa und Lyrik. In diesem Flirren wird das, was die Figuren als ihr unvermeidliches „Schicksal“ erfahren, selbst zum Thema. „Que será será“ heißt es mit Doris Day im Westen, „Kismet“ in der östlichen Kultur. Was geschieht, geschieht, dagegen ist nichts zu machen, und doch zeigt Lehr, dass es sehr wohl auf die Haltungen und Einsichten jedes Einzelnen ankommt.

„September“ ist ein großer Roman, nicht wegen seiner „Welthaltigkeit“, sondern weil es Lehr gelingt, die bloße „Welthaltigkeit“ zu überschreiten. Aus Politik wird Poesie; Geschichte ergibt sich aus den unterschiedlichen Sichtweisen, die hier aber nicht einfach nur nebeneinander stehen, sondern verwoben sind wie die Fäden in einem orientalischen Teppich. Lehr beweist, dass Vorstellungskraft und Einfühlungsgabe weiter reichen können als purer Dokumentarismus. Den Passagen, die vom Alltag in Bagdad unter Saddam und im Krieg handeln, ist nicht anzumerken, dass der in Berlin lebende Autor nie im Irak gewesen ist.

Damit wären wir bei der zweitdümmsten Kategorie der Literaturkritik, der sogenannten „Authentizität“. Sie ist das Komplementärstück zur „Welthaltigkeit“. Je subjektiver und dichter bei sich selbst und seinen Erfahrungen ein Autor bleibt, umso weniger große, weite Welt enthält seine Literatur. Je mehr „Welthaltigkeit“, umso weniger „Authentizität“. Lehr hebt auch diesen Gegensatz auf – mit nichts als Sprache und Imagination.

Thomas Lehr: „September. Fata Morgana“. Hanser Verlag, München 2010, 478 Seiten, 24,90 Euro