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Archiv-Artikel

Helden für unsere Zeit

POSTHEROISCH Wer will schon ein fetter Nobelpreisträger sein? Und wer eine Frau, von der keiner mehr als den Anfangsbuchstaben kennenlernt? Harald Martensteins Roman „Gefühlte Nähe“, Ian McEwans Roman „Solar“ – kann, muss oder darf man diese Bücher lieben?

Zum Schmerz, unzureichend geliebt zu werden oder falsch zu lieben, kommt die narzisstische Kränkung, dass dieses Leiden alltäglich ist. Immerhin darf darüber gelacht werden

VON DIRK KNIPPHALS

Es hat etwas einigermaßen Irritierendes, wenn einem Romane, von denen man zunächst annahm, dass man mit ihnen schnell und routiniert durch sein würde, noch lange nachgehen. Mit Harald Martensteins Roman „Gefühlte Nähe“ und Ian McEwans Roman „Solar“ kann einem das jetzt so passieren. Und man kann dann sogar auf die Idee kommen zu behaupten, dass die Art und Weise, wie wir gerade mit diesen beiden Büchern umgehen, etwas Entscheidendes über unser Verhältnis zur Gegenwartsliteratur aussagt.

Harald Martenstein beschreibt 23 Liebes- und Sexkatastrophen. Sein Roman ist ein Reigen aus Trennungen und Gefühlsdesastern. Nach Weltwichtigkeit klingt das erst einmal nicht. Auch sonst findet, wer will, schnell andere Gründe, um es sich mit diesem Buch leicht zu machen. Martenstein ist Kolumnist bei der Zeit. In Deutschland gibt es Abwehrreflexe gegen Journalisten-, erst recht gegen Kolumnistenbücher. Und „Gefühlte Nähe“ ist – wie auch schon Martensteins Debüt „Heimweg“ – bei einem Bestsellerverlag herausgekommen. So etwas hat hierzulande immer noch etwas Anrüchiges.

Aber es wäre ein Fehler, in solche Rezeptionsfallen zu tappen. Das liegt nicht nur daran, dass viele Szenen mit Sinn für Tragikomik und subtile Gemeinheiten aufgeschrieben sind; ein großartiges Nichts-Menschliches-ist-einem-fremd-Gefühl vermittelt etwa die Stelle, in der ein gealterter Schauspieler sich müht, den letzten Sex seines Lebens hinzukriegen. Es liegt auch nicht nur an der gewagten Erzählkonstruktion, nach der die Hauptfigur der Geschichte – eine nur durch den Buchstaben N. bezeichnete Frau – schemenhaft im Hintergrund bleibt. Ihre Liebesepisoden werden jeweils aus der Perspektive ihrer wechselnden Liebhaber erzählt, so dass man ein weit gespanntes Panorama männlicher Verhaltensweisen bekommt – vom töffeligen Sensiblen über Freizeit-Don-Juans bis zum ausgewachsenen Arschloch. Und es liegt auch nicht nur daran, dass man mit dieser indirekten Frauenbiografie ganz nebenbei einen Geschichtsbogen von den frühen Siebzigern bis in die Gegenwart bekommt.

Aber an allem zusammen liegt das schon. Und was einem wirklich nachgehen kann, ist die lakonische, kühl registrierende Erzählhaltung. Irgendwann geht einem auf, wie wenig sie den eingeübten Verfahrensweisen im engeren Kern unserer Literaturszene entspricht.

Man braucht nur zwei andere aktuelle Romane zum Vergleich heranzuziehen, in denen mittelalte Autoren über emotionale Schieflagen schreiben. Peter Wawerzinek erzählt in „Rabenliebe“ von den seelischen Verheerungen einer verunglückten Mutter-Kind-Beziehung (taz vom 18. 9.). Thomas Hettche erzählt in „Die Liebe der Väter“ von den emotionalen Herausforderungen eines geteilten Sorgerechts (taz vom 18. 8.). Beide Autoren erzählen ziemlich pathetisch und, verdeckt von einem beträchtlichen rhetorischen Aufwand, mit recht schlichten Aufteilungen in Gut und Böse. Bei Wawerzinek ist alles böse. Die Mutter sowieso, aber auch die Umstände sind es, die Zeitläufte und alle Figuren außer dem Erzähler. Bei Thomas Hettche ist das etwas komplizierter, aber dass der Vater hilflos-unschuldig ist, bleibt die ganze Zeit über klar.

Im Grunde, hat man den Eindruck, soll Literatur bei Peter Wawerzinek und Thomas Hettche als höhere Einspruchs- und Heilungsinstanz funktionieren. Das Leiden eines Individuums soll in ihr – auch wenn niemand weiß, wie das gehen soll – in einer anderen Wirklichkeit aufgehoben werden. Auf solche fast schon literaturreligiöse Emphase stößt man, wenn es zum Schwur kommt, noch ziemlich oft in unserem Literaturbetrieb.

Bei Harald Martenstein ist das anders. Auch N. leidet. Auch Robert, Klaus, Walther, und wie N.s wechselnde Liebhaber auch alle heißen, leiden. Aber klare Einteilungen in Gut und Böse sind in „Gefühlte Nähe“ meist nicht möglich (manchmal aber auch doch, es gibt hier wirklich keine Klarheit). Gerade das Serielle der Liebeskatastrophen, die Martenstein schildert, wirkt irgendwann echt brutal. Zum Schmerz, unzureichend geliebt zu werden oder falsch zu lieben, kommt die narzisstische Kränkung, dass dieses Leiden alltäglich ist – eine Erkenntnis, mit der sich die Helden bei Wawerzinek und Hettche lieber gar nicht erst belasten. Während Harald Martenstein ungerührt die Lage sondiert. Mit „Gefühlte Nähe“ hat man eine literarische Übung darüber, was bei der „ganz normalen Unwahrscheinlichkeit“ (Luhmann), im Glück des anderen sein eigenes Glück zu finden, alles schiefgehen kann.

Dass es mit der Rettung der Welt auch nicht so einfach ist, steht in dem Roman „Solar“ des britischen Literaturstars Ian McEwan. Furchterregend gute Besprechungen aus Großbritannien wollten einem dieses Buch vorab als wichtigen politischen Roman verkaufen. Aber das ist bloß ein Missverständnis. McEwan nutzt die Diskussionen um Klimaerwärmung und Energiekrisen vielmehr als Hintergrund für eine Wissenschaftssatire und für ein etwas aus den Fugen geratenes Porträt eines Typus. Michael Beard heißt seine Zentralfigur, ein Mann, der in seinen jungen Jahren einmal einen genialen Einfall hatte, dafür gleich den Physiknobelpreis bekam, seitdem immer dicker wird, als gehobener Wissenschaftsmanager sein Leben zubringt und am Schluss als betrogener Betrüger dasteht. Lügen, Gaunereien, Egoismen – das menschliche Zusammenleben ist in diesem Roman viel zu kompliziert und vor allem: die Menschheit ist mit diesen Antrieben als Gattung viel zu erfolgreich, als dass es zu einer vernünftigen Lösung aller Probleme kommen könnte.

Aber vielleicht sollte man sich auch hier sowieso nichts vormachen? „Solar“ und „Gefühlte Nähe“ haben mehr gemeinsam, als dass alle Liebesabenteuer – und da gibt es auch bei McEwan mehr als genug – trostlos enden. Was einem bei „Solar“ nachgehen kann, ist die Vehemenz, mit der in diesem Roman alle Heilserwartungen mit großer Komik (Michael Beards Ausflug zum Polarkreis gehört zu den Höhepunkten satirischer Literatur überhaupt) radikal heruntergekocht werden. „Abhilfe könne nur geschaffen werden, wenn jeder Mensch sein Leben ändere“, für so eine Ansicht hat Ian McEwan nur ein literarisch ausgefeiltes Hohnlachen übrig. Und immerhin bringt er seine Leser immer wieder dazu, dass man mit ihm lacht.

Beide Romane eint damit eine zutiefst postheroische Haltung. Auch gegenüber der Literatur. Die tragikomischen Filme der Coen-Brüder können einem einfallen. Bei ihnen kann man sich oft nicht recht entscheiden – und möchte es auch gar nicht! –, ob man es mit tiefen Gefühlen oder höherem Spaß zu tun hat. Auch bei Harald Martenstein und Ian McEwan ist das manchmal so. Ist das nun eine Analyse der Gegenwart oder ein intelligentes Spiel mit Klischees? Was einem wirklich nachgehen kann, ist das unbehagliche Gefühl, dass es beides zugleich ist.

„Kann man Bücher lieben?“, fragt im Titel seines neuen Buches der bekannte Literaturkritiker Hubert Winkels. Natürlich kann man das, und Hubert Winkels beweist das auf den 382 Seiten dieses Buches zur Genüge.

Eine interessante Frage aber wäre, ob man solche Bücher wie die von Harald Martenstein und Ian McEwan lieben kann. Der Eindruck ist: Eher nein, das kann man nicht. Dazu bieten beide Romane zu wenig erzählerische Wärme und Identifikation. Wer will schon ein fetter Nobelpreisträger sein? Wer ein abgelegter Liebhaber? Und wer eine Frau, von den niemand mehr als den Anfangsbuchstaben kennenlernt? Außerdem bieten die Romane auch kaum die Möglichkeit, sich beim Lesen eines schwierigen Stücks Literatur wie nach einem glücklich bestandenen Test zu fühlen. Und das scheint ein Gefühl zu sein, das offenbar viele LeserInnen brauchen.

Aber vielleicht sollte man seine Kriterien für die Bücherliebe auch einmal überprüfen. Und schätzen kann man diese beiden Romane auf jeden Fall. Ian McEwan erzählt davon, dass bei der Weltrettung immer irgendetwas schiefgeht. Harald Martenstein davon, dass auch eine Rettung im Privaten nie endgültig klappt. Das sind ernüchternde, trostfaule, aber vielleicht ja wenigstens erwachsene Einschätzungen zur aktuellen Lage. Wenn einem diese Bücher also nachgehen können, dann als ein nützlicher dunkler Begleitbass unserer gelegentlich allzu hellen Literatur- und Selbstentwürfe.

Harald Martenstein: „Gefühlte Nähe“. C. Bertelsmann, München 2010, 222 Seiten, 19,99 Euro ■ Ian McEwan: „Solar“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2010, 402 Seiten, 21,90 Euro