„Die Reform muss von innen kommen“
Wie krank ist der Islam? Der Schriftsteller Abdelwahab Meddeb über seine Kritik am traditionellen Islam wie auch am militanten Fundamentalismus, über die Reaktionen auf seine Kritik in der arabischen Welt und in den USA sowie die verschiedenen Modelle der Integration der Muslime in Europa
INTERVIEW DANIEL BAX
Herr Meddeb, vom Papst bis zur jüngst verstorbenen Oriana Fallaci: Islamkritik ist derzeit schwer angesagt. Ist das gut so?
Abdelwahab Meddeb: Man muss auf der einen Seite sehr entschieden sein gegenüber jenen, die uns den Krieg erklärt haben. Man sollte aber auch sehr durchdacht auf die internen Differenzen achten und den Kampf nicht gegen den Islam, sondern gegen den militanten Islamismus führen. Das ist ein globaler Kampf, und Attentate gab es sowohl im Westen wie auch in vielen islamischen Ländern. Man sollte den Islam mehr denn je in diesen Kampf einbeziehen.
Sie meinen die moderaten Kräfte.
Ja, auch wenn ich diesen Ausdruck nicht mag. Ich selbst bin weder ein gläubiger Muslim noch moderat: Wenn es um Terror geht, bin ich kompromisslos.
Wird nicht genug differenziert?
Teilweise schon. Aber wenn George Bush in einer Rede al-Qaida, die Hisbollah, die Hamas und das iranische Regime in einem Atemzug nennt, dann stellt das ein großes Problem dar. Denn das ist nicht das Gleiche.
Das sind doch alles Islamisten, oder?
Ja, aber selbst an deren extremsten Rändern gibt es Unterschiede: Nehmen Sie eine militante Gruppe wie die Dschamaa al-Islamija in Ägypten, die einst für den Mord an Sadat verantwortlich war. Deren Chefideologen haben im ägyptischen Gefängnis ein Buch geschrieben, in dem sie der „Dschihad“-Interpretation von al-Qaida eine klare Absage erteilen. Sie greifen dabei auf eine alte theologische Debatte zurück: Denn die Frage, ob es erlaubt sei, im „Dschihad“ den Tod Unschuldiger in Kauf zu nehmen, kam erstmals während der Kreuzzüge auf, als die Kreuzfahrer muslimische Geiseln im Kampf als „menschliche Schutzschilde“ missbrauchten. Die Auffassung, dass dies erlaubt sei, wurde von al-Qaida adaptiert, aber auch von der Hamas. Daran sieht man, bis in welches technische Detail sich die internen Differenzen erstrecken können.
In Ihrem Buch „Die Krankheit des Islam“ haben Sie scharfe Kritik am Zustand der arabischen Welt geübt. Welche Reaktionen gab es dort auf Ihr Buch?
Es ist respektvoll aufgenommen worden, aber ich würde auch sagen: Seine ikonoklastischen Thesen hat man ignoriert. Dennoch denke ich, dass das Buch vielen Lesern geholfen hat, eigene Positionen zu finden. Denn der 11. 9. hat viele Menschen auf dem Globus verstört, aber auch fasziniert.
Ist man offen für Ihre Kritik?
Ich kann mich an eine Diskussion in einem interreligiösen Kreis in Beirut erinnern, die war sehr offen und konstruktiv. Selbst ein schiitischer Imam sagte dort: Wir brauchen solche Bücher, auch wenn uns die Kritik stellenweise übertrieben vorkommt. Und wir hoffen, dass sie nicht verfemt werden, wie das mit Rushdie geschehen ist.
Wie groß ist diese Gefahr?
Der ägyptische Kritiker Ghamal al-Ghitani sagte mir, er sei überrascht, dass ich nicht auf der schwarzen Liste radikaler Islamisten stünde; er selbst braucht deshalb Bodyguards.
Mein Text weist eine gewisse Komplexität auf, die mich im Moment noch schützt. Aber warum fragen Sie nicht, welche Reaktionen es in den USA auf mein Buch gab?
Sollte ich?
Ich war sehr überrascht über die negativen Reaktionen dort. Ein Rezensent glaubte, in meinem Buch das „französische Syndrom“ auszumachen: Es sei von einer tiefen „gallischen Abneigung“ gegen alles Amerikanische durchdrungen. Ein anderer nannte es ein antiisraelisches, antiamerikanisches Machwerk. Und in einer Besprechung in der Army Review des Pentagon hieß es: Wenn selbst die verwestlichten Muslime uns nicht leiden können, müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen.
Sehen Sie die Absurdität? Da glaubte ich, ein durch und durch prowestliches Buch geschrieben zu haben, und sah mich als Antiamerikaner abgestempelt. Das verdeutlicht den Ernst der Lage. Meine Freunde in den USA sprechen von einer Breschnew-Ära, ich würde es eher als eine quasi-stalinistische Phase ansehen: Mit diesem Motto „Die, die nicht mit uns sind, sind gegen uns“ wird jede Kritik abgeblockt. Das hat zu schrecklicher Blindheit geführt.
Auch in der arabischen Welt herrscht doch diese Abwehrhaltung vor, nach dem Motto: Der 11. September hatte nichts mit uns zu tun. Das zieht sich hin zu solchen Verschwörungstheorien, nach denen der Mossad oder die CIA dafür verantwortlich gemacht werden.
Das stimmt – dieser Willen, sich der Verantwortung zu entziehen, ist da. Aber ich glaube, das ist nur eine Minderheit.
Die Instanzen des traditionellen Islam, wie etwa die Al-Azhar-Universität in Ägypten, befördern nicht gerade das kritische Denken. Sind sie nicht selbst zu sehr vom islamistischen Denken durchdrungen?
Ich bin voll und ganz dieser Meinung: Die Instanzen des traditionellen und offiziellen Islam sind viel zu defensiv. Sie müssten viel mehr Kraft darauf verwenden, den Geist der Reformen wiederzubeleben, wie es ihn im 19. Jahrhundert etwa in Gestalt von Mohammed Abduh gab. Doch davon ist man weit entfernt. Aber ihre Konzessionen gegenüber dem Islamismus werden ihnen nichts nützen, im Gegenteil.
Wie gefährlich ist der Islamismus?
Die eigentliche Gefahr ist nicht der militante und gewalttätige Islamismus, er ist nur Sache einer Minderheit. Viel gefährlicher ist der diffuse Islamismus, der sich in der gesamten Gesellschaft ausbreitet und diese durchdringt. Das ist mir sehr deutlich geworden bei meinem Besuch in Kairo Ende der Neunzigerjahre, kurz nach den Attentaten von Luxor 1997. Diese hatten mich in keinster Weise überrascht. Sie waren nur ein radikaler Ausdruck dessen, was die Mehrheit der Gesellschaft dachte. Alle Journalisten, Intellektuellen und Theologen, die ich traf, meinten, das könnten keine Ägypter, sondern nur ausländische Feinde gewesen sein. Wieder diese Flucht vor der Verantwortung! Ich habe mich damals mit allen gestritten: Ihr seid verrückt! Diese Leute haben doch nur eure eigene antiwestliche und xenophobe Rhetorik in die Tat umgesetzt. Auch die Repräsentanten des traditionellen und des offiziellen Islam haben zu diesem Klima beigetragen.
Hat sich das Klima geändert?
Es gibt einige neue Stimmen. Ich sehe das daran, dass meine Metapher der „Krankheit“ inzwischen Verbreitung gefunden hat, sie sogar von arabischen, religiösen Autoren benutzt wird. Einer schrieb, der Islam sei krank und leide vielleicht an der schwersten Krankheit seiner Geschichte. Ein anderer schrieb, man könne diese Krankheit nicht einsperren, denn im Gefängnis würde sie sich zu einer Pest ausbreiten. Diese theologischen Stimmen aus dem Spektrum des traditionellen Islam existieren also, nur noch nicht allzu zahlreich.
Wem trauen Sie eine Reform des Islam zu?
Man muss unterscheiden zwischen laizistischen, areligiösen Intellektuellen wie mir, die sich außerhalb jeglicher institutioneller Strukturen bewegen. Auch unsere Arbeit trägt zu einer Reform des Islam bei und hat Auswirkungen auf die Gesellschaft. Aber eine echte Reform muss von innen kommen.
Halten Sie einen umstrittenen Denker wie den in Genf lebenden Gelehrten Tariq Ramadan für einen Islam-Reformer?
Man muss seine Entwicklung sehen. Er stammt zweifellos aus dem Milieu der ägyptischen Muslimbrüder und es gibt einiges, was ich an ihm kritisiere: dass er etwa versucht hat, die Aufführung des Stücks „Mohammed“ von Voltaire in Paris zu verhindern. Aber bestimmte Aktionen von ihm in Ägypten sehe ich sehr positiv: so seine Idee zu einem Moratorium, jegliche Anwendung von Körperstrafen nach der Scharia in den islamischen Ländern, die sie anwenden, aussetzen zu lassen. In Le Monde hat man sich darüber lustig gemacht, und die meisten Europäer haben die Idee nicht verstanden. Aber in der arabischen Welt hat das eine echte Diskussion ausgelöst und die traditionellen Autoritäten zu einer Reaktion herausgefordert. Insofern war es sehr nützlich. Man muss ihn von diesen beiden Seiten betrachten.
In den meisten arabischen Ländern herrscht keine Demokratie. Muss eine Reform des Islam aus Europa kommen?
Natürlich braucht es Meinungsfreiheit, um das kritische Denken über den Islam zu befördern. Aber die Kulturen sind sich nicht so fremd. Was auf der einen Seite des Erdballs geschrieben wird, findet auf der anderen Seite sofort Widerhall. Wir bewegen uns vor dem Horizont einer Weltliteratur, einer Weltkultur.
In Europa gibt es viele junge Muslime, die ihr Wissen über den Islam aus dem Internet oder aus dem Freundeskreis beziehen. Wie erreichen Sie die?
Ja, das ist ein Kampfislam, ein Islam der Slogans, der sich aus den Frustrationen und dem Ausschluss aus der Gesellschaft nährt. Seine Verbreitung korrespondiert mit der Situation, in der sich unsere Welt befindet. Mich überrascht, wie sich manche deleuzeschen Konzepte perfekt auf diese Leute übertragen lassen: Die Rhizom, die Frage der Deterritorialisation, der okkulten Vernunft, es ist alles da.
Wie kann man diese Leute integrieren? Ist das laizistische und republikanische Modell in Frankreich oder der Multikulturalismus in Großbritannien besser dafür geeignet?
Das sind in der Tat zwei entgegengesetzte Modelle. Das britische hat sich in der Kolonialzeit ausgebildet. Laut Rudyard Kipling funktioniert es so: Ich bin, wer ich bin, sie sind, wer sie sind, nie wird sich das ändern. Diese Vorstellung unveränderlicher Identitäten führt zu einem sehr weit gehenden Respekt vor der Differenz, den ich nicht teilen kann: Er hat dazu geführt, dass radikale Islamisten mitten in London zu Verbrechen aufrufen konnten. Auch der französische Ansatz findet sich bei den Theoretikern des Kolonialismus: Ich bin die Zivilisation, ihr seid die Barbarei. Aber ich möchte, dass ihr die Zivilisation werdet, also gebe ich euch die Chance, so zu werden wie ich. Das ist das republikanische Integrationsmodell.
Europa muss einen Mittelweg finden, der aus beiden Erfahrungen schöpft. Man muss einen Gemeinschaftssinn kreieren, der nicht von anderen Referenzen überlagert wird. Man sollte betonen, dass Europa nicht nur eine jüdisch-christliche Grundlage hat, sondern auch eine jüdisch-christlich-islamische. Der Islam war in gewisser Weise der Schulmeister Europas. Wir müssen deshalb weiter an einer neuen Form des Multikulturalismus arbeiten: ein Multikulturalismus, der zu einem geteilten Set an Werten beiträgt.
Und politisch gesprochen? Ist das Kopftuchverbot an französischen Schulen sinnvoll?
Ich halte es für enorm wichtig. Es zeigt die Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre – und dass es auch andere Formen geben kann, den Islam zu leben. Die islamische Tradition des Schleiers ist doch viel komplexer, als sie heute dargestellt wird. Heute ist das Kopftuch zum Symbol für eine Kultur der Abgrenzung geworden gegenüber einem westlichen Universalismus, der die ganze Welt durchdringt.