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Archiv-Artikel

Ein allzu öffentlicher Fall

ÜBERFORDERTE SPORTLER Mit dem Selbstmord der Torwarts Robert Enke beschäftigen sich die Autoren Ronald Reng und Ines Geipel. Der eine vertieft sich in Enkes Tagebücher, die andere entdeckt die „Zeitkrankheit“ Depression

Der Autor hinterfragt die Version der Witwe nicht, doch seine Schilderungen sind eindringlich

VON STEFAN OSTERHAUS

Es wäre eine blanke Untertreibung, die Nachricht vom Tode Robert Enkes am 10. November des letzten Jahres erschütternd zu nennen. Sie löste mehr aus als nur ein kleines Beben, sie versetzte ein Land für die Dauer einiger Tage in Lähmung, der bald eine Suche nach der Ursachen folgte. Einen Sinn wollte niemand erkennen in der brutalen Tat Enkes, der seiner Verzweiflung Ausdruck verlieh, indem er sich von einem Zug nahe seines Hauses im niedersächsischen Eilvese überrollen ließ.

Als die Republik am Grabe Enkes zusammen und wenig später wieder zu sich fand, redete man über Depression – eine Krankheit, die das Land befallen zu haben schien. Doch schon bald, nur wenige Wochen später, hatten die Bewohner sich aus ihrer Starre befreit. Depression hieß plötzlich Burn-out und war das Prädikat der Leistungsgesellschaft – gewissermaßen die Auszeichnung derjenigen, die darauf pochen, alles gegeben zu haben. Dabei hatte doch auch Enke alles gegeben. An Einsatz hatte es nie gemangelt. Selbst sein Tod provozierte mediale Höchstleistungen: „Eine privat gelebte Krankheit wurde zum öffentlich diskutierten Zeitzeichen“, schreibt die Schriftstellerin Ines Geipel in ihrem gerade erschienenen Buch „Seelenriss – Depression und Leistungsdruck“. Sie hat den Lebensweg Enkes nachgezeichnet, auf fünfzig Seiten, die auch diejenigen verblüffen werden, die glaubten, schon vieles über Enke zu wissen. An Details mangelt es auch einem zweiten Buch nicht, das in diesen Tagen erscheinen ist und vom Leben Enkes erzählt. Ronald Reng hat es geschrieben, es heißt „Robert Enke. Ein viel zu kurzes Leben“.

Der Autor und der Torhüter standen sich nahe. Sie waren Freunde, lernten einander in Barcelona kenne, und Reng bekam eine tiefen Einblick in das Seelenleben Enkes. Doch es war nicht allein der Freund, der ihn an seinen Ängsten und Nöten teilhaben ließ – es war die Witwe Robert Enkes. Teresa Enke gewährte ihm Einblick in die Tagebücher des verstorbenen Mannes. Intimer geht es kaum.

Reng schildert minutiös den Weg Enkes in die Depression, und eine besondere Rolle hat er dem Kapital Barcelona zugedacht: Hier bündelten sich die Hoffnungen Enkes auf eine ganz große Karriere. Doch hier kam Robert Enke nicht zu Zuge, hier überkamen ihn massive Selbstzweifel. Er begab sich in Behandlung. Louis van Gaal, der damals Barça trainierte, wird vom Autoren durchaus kritisch betrachtet. Doch Enke war sich im Klaren, welches Wagnis er eingeht: Van Gaal beschied ihm, dass nicht er ihn wolle, sondern der Sportdirektor. Reng schildert die Therapie, er schildert die Hoffnung und Verzweiflung eines hochbegabten Athleten, den auch im Privaten schwere Schicksalsschläge ereilen. Nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt ist und in Hannover einen Klub gefunden hat, stirbt die Tochter an einem angeborenen Herzfehler. Der Sportler kommt nicht zur Ruhe.

Es ist die Perspektive des Tagebuchs, die Reng wiedergibt: Und es ist der Blickwinkel der Witwe und des Beraters Jörg Neblung. Reng hinterfragt ihre Version nicht, doch seine Schilderungen sind eindringlich.

Ines Geipel dagegen wählt einen anderen Blick. Sie nähert sich Enkes Schicksal aus dem Winkel eines Systems, dass nicht mehr existent ist: der DDR. Die Spuren, die die Diktatur im Seelenleben ihrer Insassen hinterließ, sind das zentrale Thema der Autorin. Sie stammt wie Enke aus Jena, sie betrieb wie Enke Leistungssport auf höchstem Niveau: Sie wurde zur Spitzenläuferin gedrillt, Dopingmittel wurde auch ihr verabreicht, ohne dass sie es wusste, sie erwirkte deshalb vor einigen Jahren die Streichung ihres Namens aus den Rekordlisten.

Geipel kennt das Milieu. Sie schildert den Weg des Torhüters – auf dem Weg zum Stadion musste er eine Schnellstraße überqueren: „Über sie führte eine kleinen Stahlbrücke. Von dort aus waren es kaum zwanzig Meter bis zum Stadiongelände. Robert Enkes Weg dürfte auch im Herbst 1989 täglich über diese wacklige Stahlbrücke geführt haben, als käme der Zwölfjährige mit ihr wie selbstverständlich von einer Zeit in die andere, als sei sie der Garant für einen Alltag, der anderen über Nacht weggerissen wurde.“ Die wackelige Brücke wird zum Sinnbild einer Existenz, die keinen Halt findet.

Eine Rolle spielt das paranoide System in Rengs Buch nicht. Die Melange aus Stasi, Leistungsdruck und gesellschaftlichen Umwälzungen ist es aber, die Geipel keine Ruhe lässt. Groß sei die Anzahl Depressiver damals in Jena gewesen – für Geipel manifestiert sich darin vor allem eines: ein repressives Klima.

Grundverschieden sind die Versionen beider Bücher, die ein Bild vom Leben eines tragischen Athleten zeichnen. Elegisch schildert Reng den Weg Enkes in den Suizid, das Tagebuch dient zur minutiösen Rekonstruktion. Geipel lässt ihr Kapitel abrupt enden – so wie das Schicksal Enkes ein jähes Ende nahm. Eine Erklärung will Geipel nicht geben, sie verwirft alle Gewissheiten. Aber sie regt zum Nachdenken an.

Ines Geipel: „Seelenriss. Depression und Leistungsdruck“, Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 239 Seiten. 18,95 Euro

Ronald Reng: „Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“, Piper, München 2010. 427 Seiten. 19,95 Euro