TABULOSE SCHLAMPEN ERINNERN MICH AN MEINE STERBLICHKEIT – HERZLICHEN DANK AUCH : 1 Kolumne, die Sie lesen sollten, bevor Sie sterben
Josef Winkler
Sie fragen, mit welchem Recht ich hier hergehe und Aufmerksamkeit heische, Reklame mache, versuche, einen Leseanreiz zu schaffen, ja: einen Lese-Imperativ zu konstruieren für meine blöde Kolumne, indem ich Ihren Tod, Ihren ganz persönlichen, eigenen Tod ins Spiel bringe? Ja, wie – finden Sie es denn nicht fresh und heutig, mal zwischendurch und ungefragt von einem dahergelaufenen Wildfremden an Ihre Sterblichkeit erinnert zu werden? Wie altmodisch. Der Tod ist ja immer noch so ein Tabu in unserer Gesellschaft, da braucht’s tabulose Luder, die das aufbrechen! Und die starken „Emotionen“, die bei dem „Thema“ gemeinhin „hochkommen“, da wäre ja eine werbetreibende Industrie schön blöd, die dann nicht anzusprechen im Sinne einer kommerziellen Auswertbarkeit. Das Leben ist kurz, probieren sie mal diesen Joghurt! Wollen Sie etwa sterben, ohne je unseren geilen Sprintster-Roadster gefahren zu haben? Ihr Kind könnte jederzeit vom Balkon fallen, gönnen Sie ihm jetzt noch so eine Lilifee-Wii-Dings! Das Carpe-diem-Getue als konsumistischer Hirnfick, kommt alles noch. Hat ja schon angefangen.
Vor einigen Jahren brachte jemand ein Buch mit, dessen Titel mir spontan auf den Zeiger ging: „1.000 Places To See Before You Die“. Es war mir zuwider, wie dieser Bestseller mir mit seinem flapsigen Titel (vollständig übrigens: „1.000 Orte, die Sie sehen müssen, bevor Sie sterben, in welchem Fall es Ihnen dann ja scheißegal sein kann, dass Sie und Ihre hirnamputiert-hedonistische Vielflieger-Community den Planeten in die Klimakatastrophe geritten haben; ach, das ist es Ihnen sowieso auch lebend schon? Na dann!“) suggerierte, ich nähme irgendwie nicht am wahren Erdenleben teil, wenn ich mal fünf Minuten auf meinem Hintern sitzen bleibe.
Dienstag Deniz Yücel Besser
Mittwoch Martin Reichert Erwachsen
Donnerstag Ambros Waibel Blicke
Freitag Meike Laaff Nullen und Einsen
Montag Anja Maier Zumutung
Interessant ist, dass man sich für die deutsche Ausgabe nicht getraut hat, den Buchtitel zu übersetzen. Irgendwie mag wohl doch noch keiner das Wort „sterben“ auf einem Reisebuch lesen. „Eleganter“ hat das Problem jener deutsche Verlag gelöst, der mittlerweile eine ganze Serie von Wälzern auf den Markt hievt, mit 1.001 Platten, Liedern, Filmen, Büchern, Lebensmitteln, Weinen, Gärten, die man alle gehört, gesehen, gelesen, gegessen, gesoffen bzw. durchlatscht haben muss, und zwar „bevor das Leben vorbei ist“. Ja, wie, „das Leben“. Mein Leben? Ihr Leben? Das Leben, wie wir es kennen? Alles Leben auf dem Planeten? Apropos: Es ginge auch eine Nummer kleiner – oder größer, wie man’s nimmt –, eine Option, die ja aktuell wieder sehr denkbar scheint: „10 Bands, die sie noch schnell live sehen sollten, bevor der Dritte Weltkrieg losgeht“! Yeah, bockt Sie das an? „11 Blumen, an denen Sie noch riechen sollten, bevor der Dritte Weltkrieg losgeht.“ In der Pelzig-Sendung letzte Woche wurde eine Teletext-Umfrage zitiert, Frage: „Führt der Konflikt in der Ukraine zum dritten Weltkrieg?“ 18 Prozent antworteten „ja“, 22 Prozent „nein“, 10 Prozent „weiß nicht“ und 55 Prozent: „mir egal“. Genau, das ist es vielleicht: „1001 Dinge, die Sie sich am Arsch vorbeigehen lassen sollten, bevor Sie dann an einem davon sterben“.