: Der Koch und die Moral
Jeder kurvt allein durchs Leben, Auffahrunfall unvermeidbar. Mit „Liebe Kannibalen Godard“ und Thomas Bernhards „Auslöschung“ begann das Thalia Theater Hamburg mutig die Spielzeit
von SIMONE KAEMPF
Saisoneröffnung am Thalia Theater in Hamburg: Da zeigt sich, ob die Veränderung der Sommermonate ein inneres Knirschen erzeugt hat. Denn das Thalia muss zum Start auf die bewährten Regisseure Michael Thalheimer und Armin Petras verzichten, setzt aber mit großem Selbstbewusstein auf zwei dicke Brocken, an denen man sich auch die Finger verbrennen könnte: Godards bekannter Filmstoff „Weekend“ und Thomas Bernhards letztes Prosawerk. Das weitet den Horizont der Erwartungen, aber auch die Furcht davor, dass das Theater sich verhebt.
Düsterer als in „Auslöschung“ hat Thomas Bernhard das familiäre Zusammenleben von Eltern, Bruder und Schwestern nicht beschrieben. Bereits der Bühnenraum von Annette Kurz erzählt, wovon hier die Rede ist: Enge, Unmöglichkeit, Gefängnis. Zwar bleibt die Bühne offen bis zur Brandmauer, aber düster, bunkerartig und staubig. Im Hintergrund warten viele sorgfältig nummerierte Holzkisten, in denen, erfährt man bald, ein Familienerbe auf Versteigerung wartet. Alles soll raus: Nach dem Unfalltod der Eltern will der Sohn mit Heim und Hausrat auch endgültig die Herkunft los sein.
Angesichts der Vergeblichkeit eines solchen Ausverkaufs ist „Auslöschung“ ein Titel, den Bühnenbildner wie Regisseure dramatisch ernst nehmen dürfen. Zwar wettert die Hauptfigur mit schwarzgalligem Humor gegen Mutter, Schwestern, Gott und die Welt und verbreitet dabei viel Vergnügen an ihrer Bosheit. Doch die monologische Überproduktion bleibt zu allererst ein psychischer Gewaltakt, ein kombattantes Leidensverhältnis für und wider die Herkunft, das die Regisseurin Christiane Pohle mit der Versteigerung hart in zwei Teile schneidet. Wie jeder Versteigerung geht ihr eine Phase der steigenden Spannung voraus und folgt eine der enttäuschten Erwartungen. Denn das Erbe verkauft sich schlecht. So manches bleibt liegen, symbolischer Beweis für das Versagen der Erbanhäufer.
Mit dieser Erkenntnis fällt es immer schwerer, Thomas Schmauser als verhuschtem wie leicht zwanghaftem Erbschaftsverweigerer an den Lippen zu hängen. Losgelöst vom Geschehen, beherrscht er zwar die Bühne, autistisch und konzentriert im Gedankenfluss. Beladen mit der Last des unverkäuflichen Erbes ist er der Lächerlichkeit preisgegeben, der Vergangenheit immer weniger gewachsen, je mehr er davon redet.
So wird er in der Leidensgrimasse eines Gescheiterten selbst zum Todespunkt in der Familie, am Ende aber auch der ganzen Inszenierung, die nach schönem Start zu schnell in Begräbnisstimmung absackt.
Dass sich überhaupt ein Regisseur in die Nähe des 600-Seiten-Romans wagt, hängt mit dem bleibenden Trend zur Romanadaption zusammen. Und mit dem gewachsenen Mut des Thalia Theaters, das schon sperrige Werke wie „ Buddenbrooks“ oder „Don Quixote“, ob als Top oder Flop, auf den Spielplan holte.
Die Premiere im Thalia in der Gaußstraße von Stefan Bachmann, der zum ersten Mal am Haus inszeniert, gelingt schon besser und spielt sogar recht überzeugend mit dem manischen Chaos, aus dem auch hier die Welt errichtet ist. Thomas Jonigks Stück „Liebe Kannibalen Godard“ basiert frei auf Godards „Week-end“ . Der Film erzählt von dem bourgeoisen Paar Corinne und Roland, dessen Fahrt aufs Land zu einem surrealen Horrortrip gerät. Sie begegnen allerlei Wegelagerern, die der Grausamkeit der zivilisierten Welt mit eigenen Grausamkeiten antworten. Allen voran der Koch der Urwaldkommune, Ernest, der ihnen mit pseudo-revolutionärem Geist den Kannibalismus schmackhaft macht.
Bei Stefan Bachmann beginnt das Week-end in einer Art Edel-Restaurant. Das zivilisierte Löffeln der Suppe bildet die Basis dessen, was zerstört werden muss: die Gewissheit von Ansehen, Sorglosigkeit und Status. Und dafür sind dem Regisseur alle Mittel recht. Trash, Crash und viel Kunstblut. Die Restauranttische schieben Corinne und Roland, gespielt von Melanie Kretschmann und Stephan Schad, Auffahrunfall-reich über die Bühne. Nichts wird ausgelassen, man schlägt, liebt, mordet. Palästinensische und afrikanische Müllmänner treten auf, Araber, die westliche Regierungen ermahnen, und man diskutiert, ob die Israelis oder die Palästinenser Schuld am Krieg haben.
So dreht sich der Abend im Kern um die schwierige Frage, wie man Gut und Böse unterscheidet. Jonigk hat als Antwort Flammenreden gegen den alles verzehrenden Relativismus geschrieben, die der Koch am Ende seinen Jüngern zum Abendmahl hält: Jede Gewalt ist Unrecht, eine Gewalt ist gerechter als die andere. Recht hat er ja, aber das ist dann doch schwere Kost nach einem vergnüglichen Abend, der eine andere Botschaft bis dahin umissverständlich erzählt hat: Jeder kurvt allein durchs Leben, und wenn zwei aufeinanderprallen, ist das gleich ein schwerer Unfall. Aber verhindern lässt er sich nicht.