Anteil nehmen, Fehlendes ergänzen

Die geistige Dimension von Räumen: Florentine Sack und ihr Buch „Das offene Haus. Für eine neue Architektur“

Wir sitzen vor der Berliner Bar Tolucci. Florentine Sack ist eine 38-jährige Frau, die weiß, in welchen Punkten sie flexibel ist – wie die Wahl des Lokals – und wo sie entschieden eine Meinung vertritt. Mit ihrem soeben erschienenen Buch „Das offene Haus“ wurde sie nun zu einem Seminar im Rahmen der Architektur-Biennale in Venedig eingeladen. Darin wagt sie Feststellungen wie: „Architektur wird mit allen Sinnen erfasst, sie fließt in uns und durch uns durch.“ Gebautes soll also in seiner körperlichen Erfahrbarkeit bewertet werden? Nicht nur, antwortet Sack, doch es müsse schon nach dem Menschen im Raum gefragt werden: „In den Kirchen Europas, die oft großartige Räume haben und eine starke Spiritualität ausstrahlen, ist er meist sehr klein.“

In Japan, bei dem Besuch des Entsu-ji-Tempels nahe Kioto, machte Sack eine gegenläufige, stärkende Erfahrung, „weil ich mich hier als Teil eines großen Gesamtzusammenhangs ohne Anfang und Ende begreifen konnte“. Traditionell ist dort das Bauernhaus Vorbild für alle Sakral- und Feudalbauten, die „somit stets Intimität und Menschennähe ausstrahlen“. Dieser gemeinsame Ursprung von profanem und sakralem Raum vermisst Sack hierzulande. Das höchste Ziel als Architekt ist nach ihrem Dafürhalten, die mögliche geistige Dimension von Räumen mitzuteilen.

Unsere Unterhaltung bewegt sich von Braunschweig, wo sie ihr Studium aufnahm, über die Architectural Association in London, an der sie nach einem Stipendium blieb und diplomierte, und Stationen in Münchner Büros bis nach Innsbruck, wo Sack als wissenschaftliche Assistentin promovierte. In dieser Zeit reiste sie mehrmals in ein Zen-Kloster in den Catskill Montains im Bundesstaat New York, um mit Zen-Priestern die Kriterien ihres Buchs zu diskutieren. Eines ist Unvollkommenheit, in der sie die Chance sieht, „dass der Mensch Anteil nimmt in dem Bemühen, Fehlendes oder Fehlerhaftes zu ergänzen“.

Hat sie über diese Art der Näherung ans Bauen mit ihrem Vater gesprochen? Der Architekt Andreas Sack hat als Projektleiter im Hamburger Büro von Gerkan Marg + Partner immerhin das riesige Europäische Patentamt in München realisiert. „Wenig, aber er hat die Zielsetzung verstanden und mich unterstützt.“ Im Erlebnis von Raum fühlt sich Sack ihrer Mutter Christine näher, die als Malerin eine Professur an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg innehatte.

Durch die Veröffentlichung scheint der Weg in die Lehre vorgezeichnet zu sein, die ihr an der Technischen Universität Innsbruck auch Spaß gemacht hat. Doch der Weg zurück in die Praxis wäre ihr ebenfalls recht, möglichst an Projekten, die einen direkten Bezug zum Menschen haben. Beides käme in Arbeiten wie denen des „Rural Studio“ im amerikanischen Alabama zusammen, von dem Sack schwärmt. Als Semesterarbeit bauen Studenten zusammen mit mittellosen Bewohnern Häuser aus Bauabfällen.

Auf der Biennale blickt Sack gespannt dem Seminar mit prominenten Stadtforschern wie Richard Sennett und Saskia Sassen entgegen. Ebenso ist sie neugierig auf den deutschen Pavillon, den ihre Studienfreundin aus Londoner Tagen, die Berliner Architektin Almut Ernst, zusammen mit Armand Grüntuch kuratiert hat. Die Anregungen, die sie dort erhält, wird sie wohl getreu dem Merksatz des Zen-Meister Matsu o Basho verwenden: „Ein Gärtner soll nie seinen Vorfahren nachahmen, sondern nach demselben streben.“

MICHAEL KASISKE

Florentine Sack: „Das offene Haus. Für eine neue Architektur“. Jovis Verlag, Berlin 2006, Deutsch/Englisch, 176 Seiten, 180 Abb., 24,80 €