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Archiv-Artikel

Bei Adorno unterm Sofa

VIELHEIT Individuum und Kollektiv geben sich die Klinke in die Hand: der neue Pollesch „Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen“ im Schauspiel Frankfurt

Die Schauspieler sind Schauspieler spielende Schauspieler, herausgeputzt mit Schuluniformen

In der Börsenstadt ist einer der zwölf Sterne bereits verglüht. Scheinbar unbeirrt leuchtet auf dem Willy-Brandt-Platz, in direkter Nachbarschaft vom Schauspiel Frankfurt, das Eurozeichen vor der Europäischen Zentralbank. Es wird umschmeichelt von zwölf Sternen, welche durch ihre Anzahl die Einheit und Vollkommenheit der Europäischen Union repräsentieren sollen. Das liebe Geld ist aber auch der Hauptgrund, warum es mit der Harmonie im Moment nicht allzu weit her ist. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird sogar schon über den Sozialismus nachgedacht.

Und zwar von René Pollesch, dessen Stück „Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen“ am Samstag im Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde. Der Titel zitiert Theateravantgarde der 20er Jahre, Erwin Piscator. Freilich macht es bei Pollesch wenig Sinn, von „seinem Stück“ zu sprechen. Wie er in der aktuellen Ausgabe des Popkultur-Magazins Spex zu Protokoll gab, basiert das Werden seiner Arbeiten immer auf Diskurs. Pollesch spricht hier von einer „kollaborativen Praxis“ zwischen Regisseur und Schauspielern. Das Endprodukt ist ein diskursiver Flickenteppich aller Mitwirkenden – seien sie nun sozialistischer oder sozialdemokratischer Provenienz. Alle Gedanken stehen immer auch zur Disposition.

Auf der Bühne finden sich sechs Schauspieler – drei des jeweiligen Geschlechts – in einem Hotelzimmer wieder, gesäumt von einem Kleiderschrank, zwei Straßenlaternen, einem Bett, einer Leiter und einem Fenster, das den Blick freigibt auf einen New Yorker Straßenzug der 50er Jahre. Die Schauspieler sind Schauspieler spielende Schauspieler. Sie sind eine Person und deren Gedanken, sie sind eine Gruppe und deren einstimmiger Sprachapparat, sie sind zugleich Individuum und Kollektiv, Subjekt und Objekt.

Herausgeputzt ist die Schauspielgruppe zunächst mit Pioniertüchern, Schuluniform, blauer Latzhose und olivfarbener Militäruniform mit rotem Stern. Aus diesem Kollektiv tritt der Einzelne heraus und sieht sich der einstimmigen Gemeinschaft gegenüber, dem „Ihr“ und gleichzeitigen „Du“. „Es sind doch nur wir beide da, ich und Sie fünf.“ Doch der Einzelne ist immer ein Anderer, der seinem gleichgeschalteten Gegenüber nicht habhaft zu werden vermag. Alle identitätsstiftenden Eigenschaften des Individuums verlieren jede Relevanz – Aussehen, Geschlecht, Stimme. Das Kollektiv, der Chor, ist das Singuläre, während das Subjekt nur Abstraktion aus der Vielzahl ist.

Capisce? Da brummt einem der Schädel schon vom gedanklichen Hinterhereilen- und hinken. „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen“, schrieb einst der Frankfurter Geistesakrobat Theodor W. Adorno in seiner „Minima Moralia“. Man muss schon in direkter Linie von Adorno abstammen (was ziemlich unwahrscheinlich ist, da dieser keine Kinder hatte), um mehr als ein Drittel des Ideenfeuerwerks aufnehmen zu können, mit dem einen Pollesch und seine kollaborierenden Mitstreiter im Schauspiel Frankfurt konfrontieren. Vom Verstehen soll hier gar nicht erst die Rede sein. Man weiß dabei auch nie ganz genau, ob das Theoriegebäude, das Pollesch auf die Bühne bringt, ein Kartenhaus ist oder auf einem stabilen Fundament basiert.

Eklektizismus at its best

Angeschnitten und nutzbar gemacht werden etwa Dietmar Dath oder der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, auch der Name Marx fällt irgendwann, und Foucault versteckt sich zwischen den Zeilen. Hierbei handelt es sich aber keineswegs um intellektuelles Namedropping, Namen sind lediglich Schall und Wahn. Beherrschend ist der flüchtige, zusammengebastelte Gedanke: Eklektizismus at its best. Oder, wie sie es mit Darwin sagen: „Das hier beruht auf keinem Plan, sondern auf dem Ineinandergreifen von Variation und Auslese.“ Dabei entsteht ein Strom aus Assoziationen und Gedankensplittern, der beinahe pausenlose Beschuss des Zuschauers mit Ideen voller Zündstoff. Nur einmal, ganz kurz, legen sich alle Schauspieler schlafen, im Bett und aufgehängt am Kleiderbügel.

Am Ende sind wieder alle Fragen offen. Das nimmt man mit auf einen gedankenverlorenen Gang durch die sternenklare Frankfurter Nacht. Alle strahlten, bis auf einen. TOBIAS NOLTE