: „Es gibt keine persönliche Sensibilität mehr“
KONTROLLE Andere internationale Organisationen wie die UNO oder Weltbank haben viel klarere Regeln für den Übergang von Mandatsträgern, kritisiert Inge Gräßle, haushaltspolitische Sprecherin der EVP-Fraktion (CDU) im Europaparlament
■ ist seit 2004 Europaabgeordnete. Die 49-Jährige arbeitete zuvor als Journalistin und saß im Landtag von Baden-Württemberg. Im Europaparlament konzentriert sich die CDU-Politikerin vor allem auf Fragen der Haushaltskontrolle. Außerdem ist sie die Sprecherin der konservativen EVP-Fraktion im Haushaltskontrollausschuss.Foto: privat
taz: Frau Gräßle, immer mehr Details legen eine Selbstbedienungsmentalität von ausgeschiedenen EU-Kommissaren nahe. Wie reagiert das Europaparlament?
Inge Gräßle: Die Regeln verbieten das bislang nicht. Und alles, was nicht verboten ist, ist offensichtlich erlaubt, weil es keine persönliche Sensibilität mehr gibt. An den jetzigen Kodex für Kommissare ist eine Regelung der Übergangszahlungen geknüpft, die aus dem Jahr 1967 stammt. Damals hatte die Kommission noch eine ganz andere Rolle als heute. Ich bin bereit, den Kommissaren nach dem Ausscheiden ein Jahr oder 18 Monate ihr Gehalt voll weiterzuzahlen und ihnen gleichzeitig für diese Periode ein Berufsausübungsverbot aufzuerlegen. Wir müssen zwischen Mandat und spätere Berufstätigkeit eine Ruhephase schalten. Ich möchte zwingend vermeiden, dass ein Kommissar sich schon während seiner Amtszeit mit Blick auf spätere Berufsoptionen zu Gefälligkeiten hinreißen lässt.
Die Kommission wollte bis September einen neuen Kodex vorlegen. Warum gibt es keinen Entwurf?
Auf meine Anfrage hat die Kommission mitgeteilt, dass sie bis zum Jahresende etwas vorlegen will. Darin müssen nicht nur das Übergangsgeld und die Karenzzeit neu geregelt werden. Der Kodex ist derart lückenhaft, dass er den Kommissaren in ihrer Amtsführung nicht wirklich Leitplanken einzieht. Bislang müssen zwar Geschenke ab 150 Euro abgegeben, aber Reisen dürfen in unbegrenzter Höhe akzeptiert werden. Ein einflussreicher Oligarch aus Russland, ein Aluminiumhersteller, hat den Handelskommissar der ersten Barroso-Kommission auf seine Yacht eingeladen. Peter Mandelson hat die Einladung angenommen und dem Produzenten wenig später besondere Zugangsbedingungen zum europäischen Markt für sein Unternehmen zugestanden.
Gibt es ein Vorbild, an dem sich der neue europäische Verhaltenskodex orientieren könnte?
In den meisten Mitgliedstaaten ist der Übergang besser geregelt als in Brüssel. Andere internationale Organisationen wie die Weltbank oder die UNO haben sehr viel klarere Regeln. Der seit zehn Jahren unveränderte EU-Code fällt dahinter zurück.
Wie stellen sich Ihre Parlamentskollegen Danuta Hübner und Louis Michel zu Ihrer Forderung? Sie kassieren zu ihren Diäten weiterhin Übergangsgeld von der Kommission.
Ich stelle mir vor, dass die vor Begeisterung über meine Aktivitäten aus den Schuhen fallen. Aber auch in der neuen Kommission gibt es Probleme, die zeigen, was alles im neuen Code mitgeregelt werden muss. Wir haben eine irische Kommissarin, die Regierungsmitglied war, dann beim Rechnungshof arbeitete, jetzt in der EU-Kommission tätig ist. Da addieren sich Pensionsansprüche in einem Ausmaß, dass es einen Riesenärger geben wird, wenn das bekannt wird. Wenn ich erfahre, dass die litauische Staatspräsidentin und der italienische Außenminister weiterhin Übergangsgeld aus ihrer Kommissarstätigkeit von der EU bekommen, da frage ich mich schon: Wo sind wir eigentlich? Wie lautet Ihre Antwort? Ich sage der Kommission nur: Tut mir einen Gefallen und regelt das. Es muss doch noch irgendwo ein Gefühl dafür geben, was den Bürgern vermittelbar ist. INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER