: Plötzlich auf der Straße in Steglitz
FILMESTIVAL In den letzten 20 Jahren hat das Jüdische Filmfestival Berlin merklich zur Entkrampfung im Umgang mit jüdischen Themen beigetragen. Es bleibt aber noch was zu tun
VON MATTHIAS DELL
Der Gang ins Archiv ist aufschlussreich: Seine 20. Ausgabe feiert das Jüdische Filmfestival (JFFB) in diesem Jahr, und wenn man aus diesem Grund auf die Anfänge schaut, dann zeigt sich, wie lange 1995 her ist. Über die durchaus ambivalenten Gefühle bei der Festivalgründung steht in einem FAZ-Text von damals zu lesen, dass „dieses kleine Festival nur einzurichten versucht, was in Deutschland längst fällig war, aber insbesondere Berlin ‚nicht verdient hat‘, wie ein Redner bei der Eröffnung sagte: ein jüdisches Filmfestival“.
Hier sind Fortschritte zu verzeichnen, die sich wiederum als Verdienste der jährlichen Schau unter Leitung von Nicola Galliner gutschreiben lassen: Es ist nicht mehr derart delikat, jüdische Filme in Berlin zu zeigen – schon weil es jedes Jahr geschieht. Das JFFB, das seit 2011 Potsdam als Spielort einschließt und 2012 erstmals eine dreijährige Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds erfuhr, und Berlin haben eine weniger distanzierte Beziehung. Das kann man auch daran sehen, dass der ursprüngliche Name Jewish Film Festival mittlerweile eingedeutscht wurde.
Für die Annäherung ist die Zeit zuständig. In besagtem Festivalbericht von 1995 heißt es: „Die Überschrift klingt wie ein Seminarthema, und tatsächlich sah man dann auch die Lebensprobleme jener heute etwa Vierzigjährigen, deren Eltern dem Vernichtungsprogramm irgendwie entkommen waren, auf der Leinwand gespiegelt: Diasporajuden in Deutschland, Schweden, Holland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Australien sowie Juden in Israel, die in unterschiedlicher Weise dem tragischen Druck ihrer Väter und Mütter begegnen oder sich dagegen auflehnen.“
Der seminaristische Umgang miteinander ist auch deshalb verschwunden, weil die Festivalfilme heute nicht mehr aus der Perspektive der 40-jährigen Kinder, sondern der 30-jährigen Enkel der Holocaust-Generation erzählt werden, die, wie Ester Amramis Komödie „Anderswo“ bereits als Spielfilm erzählt, nicht selten wieder in Berlin leben.
Eine unerhörte Geschichte erzählt Yael Reuveny in ihrem Dokumentarfilm „Schnee von gestern“, der bereits auf der Leipziger Dokwoche lief. Reuveny rekonstruiert die Geschichte ihres Großonkels, der anders als die Großmutter der Filmemacherin nach der Schoah nicht in Israel ein neues Leben begann – sondern in der brandenburgischen Kleinstadt, zu der das Lager gehörte, in dem er bis 1945 gefangen war. Aus Feiv’ke wurde Peter, und zu den merkwürdigen Wegen, die das Verdrängte sich bahnt, zählt der Umstand, dass Peters Enkel Stephan sich viel stärker für das Judentum interessiert als seine Cousine: Yael Reuveny ist Teil des globalkreativen Berlin, während Stephan sich religiös für Israel wappnet.
Während Reuveny ihre Recherche manchmal fast zu ausführlich zur Erzählbewegung ihres Films macht, delegiert eine andere Enkelin Wirkung an Archivmaterial und nachgedrehte Szenen. Mooly Landesman würdigt in „Saga of a Photo“ mit ihrer Großmutter Margot Klausner eine epische Figur: Die Tochter der Leiser-Schuhfabrikanten gründete mit Habimah das heutige Nationaltheater Israels und mit den United, später Herzliya Studios die Filmproduktionsgesellschaft, die etwa das Weltbild beim Eichmann-Prozess lieferte.
Auch wenn Landesmans ästhetische Ansprüche über einen informationsvermittelnden Fernsehpragmatismus kaum hinausgehen (die Musik gibt kaum Ruhe), lassen sich in „Saga of a Photo“ doch Entdeckungen machen. Wo man gewohnt ist, dass Archivbilder dazu verwendet werden, ein Ereignis allgemein zu illustrieren, wie hier die Zeit der Novemberpogrome und Boykotte, wird es bei Landesman mit einem Mal konkret: In den Schwarzweißaufnahmen, in den uniformierte Nazis vor Geschäften von Juden auftauchen, rückt plötzlich der charakteristische „Leiser“-Schriftzug ins Bild.
Ein Gespräch über die Unternehmensgeschichte lehnten die heutigen Besitzer von Leiser übrigens ab, und so steht, das ist ein anderes bleibendes Bild aus dem Film, Landesman mit ihrem Onkel schlagartig verloren auf einer Steglitzer Straße im Verkehr.
Und so wird man sich auch in 20 Jahren noch wundern können, wie distanziert das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden einmal war.
■ Infos auf www.jffb.de