: Die wunderbare Sopranistin
La Stupenda“, die Wunderbare, wurde sie von ihren Fans genannt: Joan Sutherland, eine der überragenden Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts. Nun ist sie im Alter von 83 Jahren in Montreux-Les-Avants in der Schweiz gestorben, gut 20 Jahre nach ihrem letzten öffentlichen Auftritt.
Die Sutherland war in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Schon ihre riesenhafte Erscheinung und ihr knochig herbes Gesicht mit dem mächtigen Unterkiefer waren erstaunlich und untypisch für eine Sängerin und erst recht für eine Sopranistin des Koloraturfachs. In einer Art Quadratur des Kreises vereinte ihre Stimme, was gemeinhin unvereinbar scheint: dramatisches Gewicht und vogelzwitschernde Leichtigkeit. In dieser Qualität war sie wohl einzigartig. In puncto Stimmbeherrschung und Virtuosität übertraf sie sogar die Callas, der die Leichtigkeit mit fortschreitender Karriere zunehmend abhandenkam. Vergleichbar ist ihre schwindelerregende Mühelosigkeit im ewigen Schnee der höchsten Lagen heute allenfalls mit der Kunst der Edita Gruberova, der freilich die dunkel grundierte Dramatik der Sutherland abgeht.
Die Karriere der gebürtigen Australierin verlief auf Umwegen, denn zunächst sang sie Partien des lyrisch-dramatischen Fachs, mit denen sie kein größeres Aufsehen erregte. An der Londoner Covent-Garden-Oper begegnete sie dann dem Korrepetitor und Dirigenten Richard Bonynge – ihrem späteren Ehemann –, der ihre besondere Begabung entdeckte und systematisch förderte. Die beiden wurden ein unbezwingbares Gespann und gruben auf den Spuren von Maria Callas unverdrossen vergessene Belcanto-Opern von Bellini, Donizetti und Rossini, aber auch französische Opern von Massenet und Meyerbeer aus. Von seltener Qualität waren auch ihre Händel-Einspielungen, auch wenn sie stilistisch inzwischen von der authentischen Aufführungspraxis überholt sind. Unerreicht bleibt ihre „Lucia di Lammermoor“.
Die Sutherland hat die Gesetze der stimmlichen Schwerkraft außer Kraft gesetzt. Nach ihrem Karriereende war die Sopranistin, die als humorvolle, wenig divenhafte Person galt, noch lange als Lehrerin und Jurymitglied aktiv. REGINE MÜLLER