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Archiv-Artikel

Weihnachten ist Lokalrunde

WAHRES BERLIN Notgeile Studenten, pubertierende Monster und Hundescheiße-Attrappen: Die amüsanten Texte der Autorin Lea Streisand gibt es jetzt auf CD

Jemand, der Berlin nicht kennt, hat womöglich falsche Vorstellungen davon: Berlin mag als bunte, multikulturelle Metropole gedacht werden, als endlose Party, wo Müll und Hundescheiße auf der Straße liegen. Touristenströme ziehen, von dieser Idee geleitet, durch die Innenstadt. Auf der Suche nach der Mauer und Currywurst. Doch das alles ist ein Missverständnis. Berlin ist gar nicht so. Darüber klärt Lea Streisand in ihren kurzen, amüsanten Lesestücken auf.

Berlin erscheint Streisand nicht als Metropole, sondern als Dorfkneipe, in der man nie weiß, auf wen man trifft. Eine „Kneipe auf dem verlassenen Marktplatz eines Kaffs namens Brandenburg. Manchmal tanzen wir auf den Tischen, manchmal liegen wir darunter, jeder war schon mal mit jedem im Bett und Weihnachten ist Lokalrunde.“ Zugezogene, die davon noch keine Ahnung hätten, erfahren in Streisands Texten die bittere Wahrheit über den „Wahnsinn in Gesellschaft“. So der Titel des Hörbuchs, das eine Auswahl an Berliner Alltagsgeschichten umfasst. Vorgetragen werden sie von Streisand selbst mit tiefer, sympathischer Stimme. Normalerweise tritt sie auf den Berliner Lesebühnen auf, zum Beispiel bei den Surfpoeten. Manchmal auch in anderen Städten wie Hamburg oder München.

Mit scharfem Blick beobachtet Streisand ihr Umfeld, spricht aus, was sich viele vielleicht denken, aber niemand wirklich aussprechen mag. Mit böser Ironie kommentiert sie das Verhalten, Leben und Leiden der Berliner. Aber nicht ohne auch über sich selbst zu lachen. Etwa wenn sie mit Großstadtarroganz auf Bayern blickt. Oder wenn sie erklärt, warum ihre infantile Zerebralparese sie „so besonders besonders“ mache. Da gibt es kein Schönreden, keine falsche Schminke. Kurz und knackig erzählt jeder Text eine Episode, wie sie jeder erleben könnte oder auch schon erlebt hat. Sei es in der Berliner U-Bahn, in der Disco oder in der Bibliothek.

In der Kneipe namens Berlin treffen alle möglichen Typen aufeinander: Kleinkünstler, Exhibitionisten, Spanner, Nazis, Punks, Studenten und Pubertierende. Letztere sind für Streisand die Schlimmsten. Denn in der Pubertät verwandeln sich Kinder in „kleine leidende unglückliche Monster“. Streisand weiß wovon sie spricht, denn sie gibt Theaterkurse für junge Menschen. Auch auf diesen Seiten hat die taz-Autorin von ihren Erlebnissen mit Pubertierenden berichtet. In „Wahnsinn in Gesellschaft“ trifft man Pubertierende in zu großen Klamotten, mit Hosen, die in die Kniekehlen rutschen. Ein Junge, der sich besoffen in der U-Bahn von Frau zu Frau hantelt.

Was macht der Rest der Gesellschaft? Die Kleinkünstler ziehen sich in einer Kneipe gegenseitig Flaschen über den Kopf. Studenten geben sich in der Bibliothek als „geistreiche Kreaturen“. Dabei scheint der Geist nur Nebensache: „Wer glaubt, die Atmosphäre in Diskotheken sei hormongeschwängert, der soll einmal eine Bibliothek besuchen“, erzählt Streisand. Sie selbst hat Skandinavistik und Germanistik studiert. „Erst kommt der Hunger, danach die Müdigkeit und zum Schluss die Geilheit.“ Nämlich dann, wenn Haarspitzen Sexappeal bekommen und die Grübchen des Typen am Nebentisch unwiderstehlich werden.

Berlin ist zu jeder Jahreszeit besonders, sagt Streisand. Im Frühling gingen tollwütige Großstädter auf die Pirsch, im Sommer herrsche überall „fröhliche Scheißegal-Stimmung“ und zu Weihnachten, da zeige sich das wahre Berlin. Wenn die Zugezogenen in ihre Heimatdörfer zurückkehren, wenn weder Touristenscharen noch Schulklassen durch die Stadt schwärmen. „Dann räumen wir zuerst den Müll von der Straße und sammeln die Hundescheiße-Attrappen ein.“ MARINA WETZLMAIER

■ Lea Streisand: „Wahnsinn in Gesellschaft: Ausgesprochene Geschichten“. Neuauflage mit zwei CDs und Booklet, Periplaneta Verlag, Berlin 2010, 14,90 Euro