: Der Flug der Falken durch halb Europa
EM-QUALI Montenegro sammelt weiter Punkte. Auch gegen England. Der Lohn: Platz eins in der Gruppe
LONDON taz | Der einzige Beifall des Abends kam lange nach dem Abpfiff. Trainer Zlatko Kranjcar wurde von der kleinen Schar montenegrinischer Journalisten im Pressesaal des Wembley-Stadions johlend begrüßt. „Ist es nicht ein Wunder?“, fragte ein Kollege verzückt. Der Kroate Kranjcar wollte das 0:0 aber nicht explizit im mirakulösen Bereich verorten. „Ich würde nur sagen: Wir haben alle unsere Erwartungen übertroffen“, lächelte der 53-Jährige. „Drei Siege und ein Unentschieden, das alles ohne Gegentor. Das zeigt, dass diese Mannschaft die Stärke hat, unser Ziel zu erreichen: die Playoffs.“
Hrabi Sokoli, die tapferen Falken, kamen als Tabellenführer der Gruppe G auf die Insel und hatten unter Kranjcar noch nie ein Qualifikationsspiel verloren. Trotzdem ging in England natürlich jeder von einem Sieg der Engländer aus. Montenegro, diesem jungen, kleinen Land (670.000 Einwohner), fehlten die beiden besten Profis, Mirko Vucinic (AS Rom) und Stefan Jovetic (Fiorentina), im Gegensatz zu den illustren Größen in Weiß hatten sie einen Plan mitgebracht. Tief in der eigenen Hälfte nahmen sie die Flügelstürmer Adam Johnson (Man City) und Ashley Young (Aston Villa) in Empfang und verwandelten den Rasen in kleine rote Gefängniszellen für die Engländer.
Fabios Capellos Männer gaben sich große Mühe, vor den zunehmend missgelaunten 73.000 auf den Rängen nicht die Nerven zu verlieren. Sie schafften es nicht: Nach der ansprechenden Auftaktphase fiel man in alte Verhaltensmuster zurück. „England sah vorne den Kopf von Peter Crouch und versteifte sich darauf, ihn unbedingt zu finden“, schrieb die Daily Mail. „Man saß in der eigenen Langball-Hölle fest“.
England hatte auch Pech, als Schiedsrichter Manuel Gräfe ein Handspiel von Milan Jovanovic im eigenen Strafraum übersah und der erschreckend matte Wayne Rooney zwei Mal am hervorragenden Torhüter Mladen Bozovic scheiterte. „Das 1:0, auf das wir gewartet haben, ist einfach nicht gefallen“, sagte Liverpools Steven Gerrard ratlos. Capello war am Ende sogar dankbar, dass Jovanovic’ Schuss in der Schlussphase nur an die Latte gekracht war. „In den anderen Spielen hat Montenegro auch nur eine Chance kreiert, aber immer getroffen. Wir haben noch Glück gehabt“, sagte der Italiener.
Der Punktverlust ist wahrlich kein Desaster; ein Sieg im nächsten Spiel gegen die eklatant schwachen Waliser würde die Briten wieder zurück an die Tabellenspitze hieven. Doch bis zu dieser Partie muss der ungeliebte Chefcoach sechs Monate schlechte Stimmung und ein Freundschaftsspiel gegen Frankreich bewältigen. Beizeiten wirkte der 64-Jährige auf dem Podest, als ob er mit dem Kapitel England abgeschlossen habe. „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie direkt nach der Weltmeisterschaft zurückgetreten wären?“, wollte ein Mann vom Boulevard wissen. „Don Fabio“ verdrehte die Augen. Die Frage empfand er offensichtlich als Beleidigung, doch an eine echte Antwort wollte er sich nicht trauen. „Es war nur ein Spiel, nur ein Spiel“, grummelte er. „Noch fünf mehr, dann können wir vielleicht darüber reden.“ RAPHAEL HONIGSTEIN