Gleichmaß ist schöner
Von Sekten und Smalltalk: Im Haus Schwarzenberg wird mit einer Ausstellung danach gefragt, wie sich totalitäre Strukturen im Alltag ausbreiten. Die einzelnen Kunstwerke nehmen die Sache ernst, der theoretische Überbau ist etwas aufgesetzt
VON JESSICA ZELLER
„Rede zunächst einmal mit jedem, den du triffst: Verkäufern, Kellnern, Menschen, die mit dir in der Schlange stehen, Nachbarn, Kollegen und Kindern. Denn Übung macht den Meister.“ Die Ratschläge, die die Künstler Jasmina Llobet und Luis Fernández Pons für den „alltäglichen“ Smalltalk geben, sind so einfach wie überzeugend. Konfliktreiche Themen wie Religion, Sex und Politik sollte man eher aussparen, und auch von der Eröffnung eines Gesprächs mit einem Kommentar über das Wetter sei eher abzuraten, „denn darüber redet nun wirklich jeder“.
Die „small talk“ betitelte Arbeit, mit ihrem hübschen didaktisch aufbereiteten Video und einem begleitenden Lernheftchen, ist eine Persiflage auf tatsächliche Weiterbildungskurse. So gibt es unter anderem Workshops für Manager, die in Zeiten von E-Mail und SMS „die Kunst des lockeren Gesprächs“ verlernt haben. Noch bis zum 6. Oktober ist der Vorschlag von Llobet und Pons gemeinsam mit sechs anderen Arbeiten zeitgenössischer KünstlerInnen in der Ausstellung „Totalism? Inside oder outside total“ in der Galerie Neurotitan im Haus Schwarzenberg zu sehen.
Die thematische Einordnung ist dabei zunächst verwirrend. Wieso wird oberflächliches Geplänkel unter einem Begriff gefasst, der normalerweise mit dem Vergleich politischer Systeme wie Stalinismus und Nationalsozialismus und schlimmstenfalls deren Gleichsetzung in Verbindung gebracht wird? Was ist an einem – wenn auch zielgerichteten – Dialog mit dem Chef im Fahrstuhl beispielsweise verwerflich bzw. totalitär? „Uns ging es nicht um die theoretische Analyse politischer Systeme. Stattdessen wollten wir danach fragen, was in unserem Alltag passiert. In welchen Situationen gibt es nur noch ein Drinnen oder ein Draußen? Wann unterliegen wir der Gefahr, von etwas völlig aufgesogen zu werden? Da erschien uns der Begriff des Totalitarismus recht passend“, sagt Yvonne Paul, die gemeinsam mit Sandra Becker 01 die Ausstellung kuratiert hat.
In diesem Zusammenhang werden auch die Praktiken von Sekten mit künstlerischen Mitteln untersucht. Sandra Becker, die aufgrund mehrfacher Namensverwechslungen vor fünf Jahren das Kürzel „01“ an ihren Namen angehängt hat, zeigt in ihrer Foto-Installation „Interview“ unbearbeitete Porträts neben Bildern, in denen eine Gesichtshälfte gespiegelt ist. Der Kunstgriff macht die Gesichter vollkommen symmetrisch. Dem Besucher erscheinen die solchermaßen manipulierten Fotos gegenüber den Originalen schöner, als würden die Porträtierten in sich selber ruhen.
Hintergrund des visuellen Experiments ist die von verschiedenen Sekten verwendete „Interview-Methode“. Dort fragt ein „Coach“ der Sekte bei den Sitzungen gezielt nach geheimen Wünschen und Bedürfnissen. Indem er an bestimmten Punkten nahe legt, dass sich die Gesichtshälften nun einander angleichen würden, suggeriert er den Befragten, dass sie schöner würden, und manipuliert damit deren Verhalten.
Ob Sekten nun aber tatsächlich zunehmend Teil unseres Alltag sind und was sie mit zwanghaftem Smalltalk, der unkontrollierten Verbreitung biometrischer Daten, mit der sich etwa Yvonne Paul in ihrer Arbeit auseinandersetzt, oder gar der Ausbreitung von „1-Euro-Jobs“ zu tun haben, der Beate Klopmaker nachspürt: gewisse Zweifel an dem künstlerischen Potpourri „Totalitarismus“ bleiben bestehen. Zwar funktioniert jede Arbeit als kritische Reflexion für sich allein. Alles gemeinsam erscheint jedoch als Vermischung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Phänomene unter einem theoretischen Überbau, der ziemlich aufgesetzt ist.
Totalism?, bis 6. 10., Mo. bis Sa. 12–20 Uhr, Galerie Neurotitan im Haus Schwarenberg, Rosenthalerstraße 39