Analphabeten der Angst

Der Transrapid-Unfall auf einer Teststrecke im Emsland zeigt einmal mehr, dass Technik fehlbar ist. Aber keine Panik! Die Angst vor Fortschritt und Modernisierung hat doch längst ausgedient – oder?

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Das Wort „Siehste!“ macht wieder mal die Runde. Der Transrapid-Unfall schaufelt Wasser auf die Mühlen derer, die es immer schon gewusst haben. „Das kann doch gar nicht gut gehen“, ist die Formel, die den Fortschritt der Technik so getreulich begleitet wie der Donner den Blitz.

Aus welchen Motiven diese Abwehrhaltung auch immer erfolgt – von religiösen bis hin zu kapitalismuskritischen –, immer geht es dabei um die Idee der Überschreitung: Eine Grenze werde überschritten, eine Norm verletzt, ein Konto überzogen. Der Philosoph Günther Anders sprach vom „prometheischen Gefälle“ des Menschen und meinte damit die Tatsache, dass die verschiedenen menschlichen Vermögen (wie Machen, Denken, Vorstellen, Fühlen) in ihrer Kapazität höchst unterschiedlich stark ausgebildet sind. Wir können, so Anders, die Vernichtung einer Großstadt ohne weiteres planen und sind in der Lage, sie technisch durchzuführen – „aber diesen Effekt vorstellen, ihn auffassen können wir nur ganz unzulänglich“.

Das prometheische Gefälle sei für unsere „Apokalypseblindheit“ verantwortlich: die Unfähigkeit, das Ausmaß an realer apokalyptischer Bedrohung angemessen wahrzunehmen, das die Menschheit sich durch die Technik geschaffen habe. Diesen Gedanken ist ihre Herkunft aus den Fünfzigerjahren, dem „Zeitalter der Bombe“, deutlich anzumerken, als erstmals die Möglichkeit eines kollektiven Suizids der Menschheit gegeben war. Das Originelle – und Aktuelle – der Analyse steckt in Anders’ Diagnose, dass wir im „Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ lebten. Das muss überraschen angesichts der Dauerkonjunktur, die das Thema Angst damals wie heute hatte und hat. Worauf Anders zielt, ist wiederum das Maßverhältnis: „Gemessen an dem Quantum der Angst, das uns ziemte, das wir eigentlich aufzubringen hätten, sind wir einfach Analphabeten der Angst.“ Zweifellos haben sich in den vergangenen hundert Jahren die Quellen der Bedrohungen – und damit auch die Art der Ängste und der Versuche, sie in den Griff zu bekommen – verändert.

Längst haben die „manmade desasters“ und ihre Folgen die sogenannten Naturkatastrophen als potenzielle Angstquelle überflügelt. Und sehr wahrscheinlich hat sich das Verhältnis von aktuellen und latenten Ängsten erheblich zugunsten letzterer verschoben. Das Leben in der Moderne setzt die Fähigkeit voraus, den Möglichkeitssinn hinsichtlich der Gefährdungen im ganz normalen Alltag gezielt klein zu halten. Wer sich früh in einer Großstadt auf den Weg zur Arbeit macht, darf sich die vielfältigen Chancen nicht ausmalen, in eine der allerorten aufgestellten tödlichen Fallen unserer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft zu laufen – er würde zwangsläufig realitätsuntauglich. Die Übergänge von der Realangst zur neurotischen sind angesichts der modernen Lebensbedingungen fließend und der Angst-Analphabetismus ist pure Überlebensbedingung geworden. Wir existieren mit und in so vielen unbeeinflussbaren, automatisierten und von Menschen nur mehr vermittelt gesteuerten Regelkreisen, dass wir ohne ein gewisses Maß an Vertrauen in die Technik nicht leben können.

Wenn beim Transrapid-Unfall die Idee auftaucht, seine Ursache sei „menschliches Versagen“, dann ist das nicht nur eine Lieblingsidee der Betreiber, die um den Ruf ihres Produkts fürchten, sondern auch eine tröstliche Vorstellung für uns alle. Schließlich benutzen wir höchst alltäglich Hochgeschwindigkeitszüge, Flugzeuge oder gar fahrerlose Shuttles zwischen Flughafen-Terminals. Den Menschen als Urheber eines Technik-Unfalls auszumachen, entlastet, ist Teil jener Abschottungs- und Verdrängungsstrategie, die zur modernen condition humaine gehört. Die Inhalte freilich können wechseln. So ist z. B. auffallend, dass Günther Anders’ altes Schreckbild, die Atombombe, heute eine ganz andere Rolle in den umlaufenden Angstszenarien spielt als zur Zeit des Kalten Kriegs. Sie ist der Terrorismusangst untergeordnet und hat – noch – keine wirkliche Aktualität. Heute überwiegen in den reichen westlichen Metropolen eher Ängste vom Typ der Vergiftungsangst gegenüber den Vernichtungs- und Technikängsten der Fünfzigerjahre.

Dass etwas in uns eindringen und von innen schädigen kann, scheint die aktuelle Hauptversion der Zivilisationsangst. Das gilt individuell wie kollektiv: ob Gammelfleisch oder al-Qaida, immer geht es darum, dass Verdorbenes, Vergiftendes oder schlicht „Fremdkörper“ in unser Inneres gelangen. Daran gemessen wird der Transrapid schnell vergessen sein. Gerade noch geeignet, dass wir wieder mal „Siehste!“ sagen können.