: Integration als Versprechen
Beim Islamgipfel geht es nicht nur um die Anpassung der Muslime an die Mehrheit. Auch die deutsche Gesellschaft kommt dabei um Integrationsleistungen nicht herum
In der südafrikanischen Stadt Sommerset östlich von Kapstadt haben sich in den vergangenen Jahren mehr als 6.000 Deutsche niedergelassen. Es gibt deutsche Bäckereien und Metzgereien, in denen auch Deutsch gesprochen wird. Die Afrikaans sprechenden Bürger klagen, dass man im Viertel der deutschen Immigranten gar nicht mehr einkaufen könne, weil man sich dort nur noch auf Deutsch verständige.
In Sommerset ist es also ein wenig wie in Berlin-Neukölln. Auch dort beschweren sich die Deutschen, dass der libanesische Metzger zwar tolles Lammfleisch habe, dass man sich mit ihm aber nicht verständigen könne. So ist das mit den Immigranten: Sie tun nur das Nötigste, um sich anzupassen, und versuchen so viel wie möglich von ihrer alten Umgebung mitzunehmen.
Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat Kinder dabei beobachtet, wie sie Schritt für Schritt ihre Vorstellungen von der Welt mit neuen Einsichten in Einklang bringen – anders gesagt, sie zu integrieren. Zunächst versuchen sie, Neues mit Hilfe alter Konzepte zu erklären. Solange das widerspruchsfrei gelingt, sehen sie keinen Anlass, ihr Weltbild zu ändern. Sind die neuen Erfahrungen mit den alten Vorstellungen und Begriffen nicht mehr zu erklären, dann bilden die Kinder neue Konzepte, um besser mit der Umwelt fertig werden zu können.
Piaget nannte den Prozess der Anpassung der Umwelt an die eigene Vorstellungswelt „Assimilation“, die Anpassung der eigenen Vorstellung an die Umwelt „Akkommodation“. Immer jedoch strebe der Mensch nach einer „Äquilibration“ – nach einer Art innerem Gleichgewicht. Ob man eher dazu neigt, die Umwelt an die eigene Vorstellungswelt anzupassen, oder bereit ist, die eigenen Vorstellungen zu ändern, hängt davon ab, wie sehr das innere Gleichgewicht gestört ist.
Die Einsichten Piagets können auch auf den Migrationsprozess angewendet werden. Jahrzehntelang sah die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland keine Notwendigkeit, das eigene Weltbild der veränderten Realität anzupassen: Migration hielt man für ein im wahrsten Sinne vorübergehendes Problem. Das war der Versuch der Assimilation, der als gescheitert – oder besser: als überholt – betrachtet werden kann. Jetzt beginnt für uns Deutsche der Prozess der Akkommodation: Wir müssen unser Weltbild an die veränderten Gegebenheiten anpassen.
Integration ist eine Anpassungsleistung, die jeder Mensch mehrfach in seinem Leben zu vollbringen hat. Es ist wohlfeil, von Minderheiten Anpassungsleistungen zu erwarten. Auch die Mehrheitsgesellschaft kommt um Integrationsleistungen nicht herum. Drei Fragen sind besonders drängend. Erstens: Ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft bereit, von einer Hermeneutik des Verdachts zu einer wohlwollenden Unterstellung von Normalität fortzuschreiten? Eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebene, repräsentative Befragung von muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, hat gezeigt, dass sich die Einstellungen von Kopftuch tragenden Frauen von denen, die keins tragen, nicht unterscheiden. „Sie sind ganz normale Frauen“, staunte die Zeit: Sie lassen sich von ihren Männer genauso wenig vorschreiben wie die Frauen ohne Kopftuch, sie haben die gleichen Karrierevorstellungen, die gleichen Lebensträume. Bei Annette Schavan („Symbol für politischen Islamismus“) und Alice Schwarzer („Flagge islamistischer Kreuzzügler“) ist die Neigung zum Verdacht größer als die Unterstellung der Normalität. Man darf gespannt sein, ob die neuen empirischen Einsichten nun zu anspruchsvollen Akkommodationsleistungen führen oder wieder neue Assimilationsbereitschaften in Gang setzen.
Leider spielt die von manchen euphorisch begrüßte Wiederkehr der Religion eine ausgesprochen zwiespältige Rolle. Viele deutsche Intellektuelle sind nach wie vor der Meinung, Religion sei eigentlich nicht normal. Hegten sie für ethnische Minderheiten noch viele Sympathien, so erscheinen ihnen diese Minderheiten in dem Moment als suspekt, in dem sie als religiöse Minderheiten erscheinen. Die neue Aufmerksamkeit für Religion behindert die Einsicht, dass auch muslimische Frauen und Männer ähnliche Ängste, Nöte, Wünsche und Träume teilen wie Agnostiker, Juden und Christen. Einer politischen Instrumentalisierung der Religion ist zu wehren, und es ist konsequent, zwischen religiösen und sozialen Problemen zu unterscheiden.
Zweitens: Nehmen wir die herausragende Bedeutung von Bildung, auch von religiöser Bildung ernst genug? Es ist zweifelhaft, ob der libanesische Metzger in Neukölln sich noch die Mühe des Deutschlernens macht. Aber vielleicht wünscht er sich ja, dass seine Tochter Ärztin oder Anwältin wird: Dann wird das Deutschlernen eine Selbstverständlichkeit. Die Wahrung der eigenen kulturellen und religiösen Identität muss dazu nicht im Widerspruch stehen. Der Bundespräsident hat bei seiner Berliner Rede in der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln kürzlich fest gestellt: „Ich halte es für überfällig, dass in unseren Schulen den Kindern muslimischen Glaubens von gut ausgebildeten Lehrern und in deutscher Sprache Islamunterricht angeboten wird.“
Ausgerechnet in der Hauptstadt Berlin ist die religiöse Bildung der heranwachsenden Generation jedoch zum Spielball parteipolitischer Interessen geworden. Mit einem Pflichtfach Ethik glaubte die Regierungskoalition aus SPD und PDS die katastrophale Situation religiöser Bildung in Berlin zum Besseren zu wenden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht ist um ein Viertel zurückgegangen, ein vernünftiges Konzept interreligiöser Bildung gibt es nicht. Wer glaubt, mit einem Ethik-Fach hinreichende religiöse und interreligiöse Bildung gewährleisten zu können, weiß nicht, was Religion ist.
Drittens: Was für einen Traum von Gesellschaft haben wir? Bei einer transatlantischen Konferenz in Berlin bekannte ein amerikanischer Muslim: „Ich bin kein Muslim in Amerika, ich bin ein amerikanischer Muslim!“ Er sei vom amerikanischen Traum ebenso angesteckt, wie es Martin Luther King gewesen sei. Während die Deutschen lange darüber diskutieren, mit Hilfe welcher Tests Immigranten ihre Deutschlandkenntnisse nachweisen müssen, stellt sich die viel elementarere Frage: Wie machen wir unser Land so attraktiv, dass sich jemand gern diesen Mühen unterziehen will? Was können wir denen, die zu uns kommen, versprechen? Welchen Visionen von einer besseren Gesellschaft jagen wir nach?
Kinder und Immigranten sind in einer ähnlichen Lage: Beide müssen Integrationsleistungen erbringen. Aber die Erwachsenen – ebenso wie die politisch Verantwortlichen – müssen eine Welt versprechen, die diese Anstrengung lohnt. Niemand ist bereit, Mühe für einen Haufen von Zynikern und Abzockern aufzuwenden. Und deshalb richtet sich die Frage der Integration zuallererst an die, die Integration erwarten: Was könnt ihr guten Gewissens denen, die in eure Gesellschaft hineinwachsen, versprechen? ROLF SCHIEDER