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Archiv-Artikel

Besser als ihr Ruf

VON COSIMA SCHMITT

Die Forscher haben die Kleinen ausgefragt. Sie haben ihnen Blut abgezapft und sie aus dem Stand springen und den Rumpf beugen lassen. Sie wollten endlich Antworten haben auf eine viel diskutierte Frage: Wie fit ist Deutschlands Jugend? Ist sie wirklich so oft träge und essgestört, wie manche Skandalschlagzeile vermuten lässt?

Zum ersten Mal also beleuchtet eine Studie umfassend und bundesweit den Gesundheitszustand der 0- bis 18-Jährigen. Das Robert-Koch-Institut untersuchte im Auftrag des Gesundheitsministerium 17.641 Kinder. Heraus kam ein Zahlenwerk, das mit manchem Klischee aufräumt.

Etwa beim Thema Allergien. Das Bild des gesunden Landkinds, das dank früher Naturkontakte besser vor Heuschnupfen und Co. geschützt ist, stimmt nicht. In Dörfern und Städten leiden etwa 17 Prozent unter einer Allergie, Jungen etwas häufiger als Mädchen. Lediglich Migrantenkinder und der Nachwuchs sozial benachteiligter Familien stehen besser da. Auch wer eine Kita besucht oder mit älteren Geschwistern aufwächst, hat bessere Chancen, allergiefrei durchs Leben zu kommen.

Ein Wert hat die Forscher besonders überrascht: dass keine Ost-West-Unterschiede mehr feststellbar sind. „Bei den Erwachsenen haben wir ein ganz anderes Bild: Ostdeutsche plagen viel seltener Allergien als Westdeutsche. Wir hätten nie gedacht, dass sich das so rasch wandelt“, sagt Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Studie. Als Ursachen vermutet sie den ostdeutschen Trend zur Ein-Kind-Familie – und dass immer weniger Eltern den Nachwuchs in die Kita schicken.

Die Studie zeigt aber auch: Deutschlands Kinder sind besser als ihr Ruf. Sie sind keine Sportmuffel, die ihre Freizeit vor allem vorm Computer oder TV-Bildschirm absitzen. Fast achtzig Prozent der 3- bis 10-Jährigen spielen täglich im Freien. Und auch von den Teenagern machen 84 Prozent wenigstens einmal pro Woche Sport. „Das hatte ich mir dramatischer vorgestellt“, sagt Marion Caspers-Merk, Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium. Sie sieht aber „durchaus Förderbedarf“. Etwa bei der Problemgruppe Teenie-Mädchen. Nur das kleine Mädchen springt und rennt genauso gerne wie ein Junge – ab der Pubertät sind Mädchen deutlich weniger aktiv. Sie fühlen sich auch weniger leistungsfähig.

Überhaupt wertet Caspers-Merk die Studie weniger als Beleg, wie schlecht es um den Nachwuchs bestellt sei. Vielmehr sieht sie sie als Hinweis, welche Risikogruppen gezielter Präventionsarbeit bedürfen. So ist etwa beim Modethema „dicke Kinder“ nun ein differenzierter Blick möglich.

Insgesamt ist auch hier die Lage nicht so dramatisch wie befürchtet. Nicht jedes fünfte Kind ist übergewichtig, wie oft gemutmaßt wurde, sondern etwa jedes siebte. 6 von 100 Kinder sind sogar krankhaft übergewichtig. Hinter diesem Gesamtbefund aber verbergen sich erhebliche Unterschiede. „Es ist erschreckend, wie geballt Kinder aus sozial schwachen Familien benachteiligt sind“, sagt Caspers-Merk. Das Mittelschichtskind ist nicht nur seltener dick. Es hat auch ein nur halb so hohes Risiko, magersüchtig zu werden. Und es leidet weit seltener unter Ängsten und Depressionen. „Wir müssen versuchen, über die Arbeit in Schulen stärker die sozial schwachen Kids zu erreichen. Sonst sind sie fürs Leben gezeichnet“, sagt Caspers-Merk.

Die Forscher wollen nun in Phase zwei eintreten: Die Ursachenanalyse. „Es ist ja wunderbar, dass jetzt so viele Daten vorliegen. Aber über die Gründe wissen wir zu wenig“, sagt Kurth. Etwa bei der Frage, warum die Fernsehfreaks unter den Kids so oft übergewichtig sind. Wird ein Kind dick, weil es zu viel vorm Bildschirm sitzt? Oder neigt gerade das schwerfällige, unsportliche Kind zu übermäßigem DVD-Konsum? Kurth ist sich sicher: „Der spannendste Part beginnt jetzt.“